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Barbara Kruger: Rote Worte vor Machtkulisse

Veröffentlicht am: 27 März 2025

Von: Hervé Lancelin

Kategorie: Kunstkritik

Lesezeit: 17 Minuten

Mit ihren schwarz-weißen Fotografien, überlagert von prägnanten Texten, hat Barbara Kruger eine visuelle Sprache geschaffen, die von allen umgedeutet wird. Ihre Kunst konfrontiert uns mit unseren Widersprüchen und enthüllt die Mechanismen der Mächte, die unseren Alltag durchdringen.

Hört mir gut zu, ihr Snobs, hört für einen Moment auf mit eurem kleinen Pseudo-Intellektuellen-Spiel, auf der Suche nach der nächsten künstlerischen Sensation, die ihr wie hungrige Geier verschlingt. Barbara Kruger ist nicht einfach eine Künstlerin, die Worte auf Bilder klebt. Sie ist diejenige, die schon lange vor unserer Instagram-Ära und viralen Memes begriffen hat, dass visuelle Sprache umgedeutet, zurückerobert und in eine Waffe der Massenvernichtung gegen den Status quo verwandelt werden kann.

Diese Frau, geboren 1945 im proletarischen New Jersey, diese Außenseiterin, die zur Insiderin wurde, ohne je ihre Wut zu verlieren, hat uns nie aufgehört, unseren Widersprüchen ins Gesicht zu sehen. Mit ihren schwarz-weißen Fotografien, überlagert von weißen Texten auf rotem Grund, hat Kruger eine so markante visuelle Sprache geschaffen, dass sie von allen geplündert wurde, von Streetwear-Marken bis zu Werbetreibenden, , ein Beweis dafür, dass der Kapitalismus sogar das frisst, was ihn kritisiert. Welch köstliche Ironie, nicht wahr?

Ihre gerade zu Ende gegangene Retrospektive in der Serpentine Gallery in London mit dem Titel “Thinking of You. I Mean Me. I Mean You” beweist die brennende Aktualität ihres Werkes. In einer Welt, in der die Grenzen zwischen Realität und Fiktion wie Beschlag auf einem Spiegel verschwimmen, bleibt Kruger jene deutliche Stimme, die uns sagt: “Schaut, was aus euch geworden ist. Schaut, was aus uns geworden ist.” Und wir schauen, fasziniert, entsetzt, unfähig, wegzusehen.

Dystopische Literatur: die Antizipation von Albträumen im Wachzustand

Das Werk von Barbara Kruger schwingt tief mit den dystopischen Literaturen mit, die unsere desillusionierte Gegenwart vorausgesehen haben. Wenn sie an dieser riesigen Wand in der Serpentine sagt, “If you want a picture of the future, imagine a boot stomping on a human face, forever” (Wenn ihr ein Bild der Zukunft wollt, stellt euch einen Stiefel vor, der für immer auf einem menschlichen Gesicht herumstampft), ruft sie direkt das Gespenst von George Orwell und seinem 1984 [1] herauf. Dieser Satz, der uns mit seiner brutalen Klarheit das Blut in den Adern gefrieren lässt, schafft eine tiefgreifende Verbindung zwischen Orwells Universum und unserer zeitgenössischen Realität.

Wie Orwell es vorhergesagt hat, ist die Sprache zum Hauptschlachtfeld unserer Zeit geworden. Orwells Neusprache ist keine Fiktion mehr, sondern unser Alltag, in dem Worte ihres Sinnes entleert, verdreht und manipuliert werden. Indem Kruger die visuellen Codes von Werbung und Propaganda umdeutet, übt sie das aus, was der Schriftsteller “sprachliche Rebellion” gegen die Macht nannte. Sie versteht, wie er, dass “wenn das Denken die Sprache korrumpiert, die Sprache auch das Denken korrumpieren kann” [2].

In “Untitled (Your body is a battleground)”, diesem ikonischen Werk von 1989, geschaffen für den Frauenmarsch in Washington, setzt sich Kruger nicht nur für das Recht auf Abtreibung ein, sondern taucht mit uns ein in die von Margaret Atwood in “Der Report der Magd” antizipierte Albtraumvision. Diese Frau mit dem Gesicht halb positiv, halb negativ gespalten, erinnert uns mit erschreckender Präzision daran, dass der weibliche Körper das erste Territorium ist, das von autoritären Mächten kolonialisiert wird. Fünfunddreißig Jahre später, in einer Zeit, in der reproduktive Rechte weltweit bedroht sind, hat dieses Bild nichts von seiner prophetischen Kraft verloren.

Als Kruger sagt: “Our people are better than your people. More intelligent, more powerful, more beautiful, and cleaner. We are good and you are evil. God is on our side” (Unsere Leute sind besser als eure. Intelligenter, mächtiger, schöner und sauberer. Wir sind die Guten, und ihr seid die Bösen. Gott ist auf unserer Seite), entlarvt sie mit chirurgischer Präzision die nationalistische und totalitäre Rhetorik. Sie dekonstruiert das “Wir gegen Sie”, das so viele dystopische Werke von Orwell bis Zamiatine und Huxley strukturiert. Ihre Kunst wird dadurch zu einer Form von Gegenfiktion, die die Waffen des Feindes nutzt: Slogans, Schlagworte, manipulative Bilder, um das System von innen heraus explodieren zu lassen.

Diese Fähigkeit, die Mechanismen der Dystopie in Echtzeit zu offenbaren, macht Kruger weit mehr als nur eine Künstlerin: Sie wird zur Wachposten, zur modernen Kassandra, deren Warnungen endlich gehört werden, vielleicht zu spät. “The secret of the demagogue is to make himself as stupid as his audience so that they believe they’re as clever as he is” (Das Geheimnis des Demagogen besteht darin, sich genauso dumm zu machen wie sein Publikum, damit dieses glaubt, genauso klug zu sein wie er), sagt sie uns und zitiert damit Karl Kraus. Eine Formulierung, die in unserer Zeit der übermäßigen Vereinfachung politischer Diskurse eine besondere Eindringlichkeit besitzt.

Soziale Architektur: Raum schaffen und dekonstruktieren

Wenn die dystopische Literatur einen Interpretationsrahmen bietet, um die politische Dimension von Krugers Werk zu verstehen, so muss man sich der Architektur zuwenden, um ihr Verhältnis zu Raum und Macht zu begreifen. Barbara Kruger ist nicht einfach eine Künstlerin, die Bilder an eine Wand hängt, sie ist eine Architektin unserer Wahrnehmung, die versteht, dass Raum niemals neutral, sondern immer politisch ist.

Wenn sie den musealen Raum bespielt, wie im Art Institute of Chicago oder im Hirshhorn Museum mit “Belief+Doubt”, begnügt sich Kruger nicht damit, die Orte zu besetzen: Sie verwandelt sie in umkämpfte Territorien. Indem sie Böden, Wände und Decken mit riesigen Texten überzieht, schafft sie das, was der Architekt Rem Koolhaas als “Reibungsflächen” [3] bezeichnen würde, Zonen, in denen unsere gewohnte Wahrnehmung gestört wird und wir gezwungen sind, aktiv unsere Beziehung zur Umgebung zu verhandeln.

Dieser architektonische Ansatz der visuellen Botschaft reiht sich in die Theorien von Le Corbusier zum “unaussprechlichen Raum” ein, jenem Raum, der die physischen Dimensionen transzendiert, um eine emotionale und politische Dimension zu erreichen. Kruger versteht, wie er, dass “Architektur das kluge, richtige und herrliche Spiel der unter Licht versammelten Volumina” [4] ist, fügt jedoch dieser Definition eine wesentliche kritische Dimension hinzu: Architektur ist auch ein Machtinstrument, das unsere Körper und Geister ordnet.

In ihrer Serie “Hospital” von 1977 erforschte Kruger bereits, wie die institutionelle Architektur unsere Erfahrung und Identität prägt. Durch Fotografien von kalten, unpersönlichen medizinischen Räumen zeigte sie auf, wie die Krankenhausarchitektur Patient*innen entmenschlicht und objektiviert. “The manipulation of the object/The blaming of the victim/The accusation of hysteria/The making mute” (Die Manipulation des Objekts / Die Schuldgefühle der Opfer / Die Beschuldigung der Hysterie / Das Zum-Schweigen-Bringen), erklärte sie und legte die Mechanismen offen, durch die der architektonische Raum zum Instrument der sozialen Kontrolle wird.

Diese architektonische Sensibilität erreicht ihren Höhepunkt in ihrer Zusammenarbeit mit der Agentur Smith-Miller + Hawkinson für das Projekt “Imperfect Utopia” im North Carolina Museum of Art. Ihr Manifest offenbart einen radikal neuen Ansatz des öffentlichen Raums: “To disperse the univocality of a ‘Master Plan’ into an aerosol of imaginary conversations and inclusionary tactics. To bring in rather than leave out. To make signs. To re-naturalize.” (Die Eindeutigkeit eines “Masterplans” in ein Aerosol imaginärer Gespräche und inklusiver Taktiken auflösen. Hineinbringen statt Ausgrenzen. Zeichen setzen. Re-naturalisiert werden.) [5] Hier kritisiert Kruger nicht mehr nur die vorherrschende Architektur, sie schlägt eine Gegenarchitektur vor, einen alternativen Raum, der die Vielheit umarmt und die Einzigartigkeit des “Masterplans” ablehnt.

Diese subversive architektonische Vision findet ihren stärksten Ausdruck in ihren immersiven Installationen, wie der im Kunstverein Köln 1990. Indem sie den Boden blutrot anmalt und auf die Deckenbalken Fragen schreibt wie “Who makes history? Who does the crime? Who is housed?”, verwandelt Kruger den Museumsraum in ein Theater der Grausamkeit, in dem der Körper des Betrachters buchstäblich in die Netze der Sprache gefangen ist. Wie David Deitcher schreibt: “If the earlier gallery installations resulted in theaters of condescension, then this one, at the Cologne Kunstverein in August 1990, must rank as a new theater of cruelty.” [6] (Wenn frühere Galerie-Installationen Theater der Herablassung hervorbrachten, so muss diese im Kunstverein Köln im August 1990 als ein neues Theater der Grausamkeit gelten).

Dieses scharfe Bewusstsein für die räumliche Dimension von Macht macht Kruger zu einer kritischen Erbin Michel Foucaults, für den Architektur untrennbar mit Disziplinartechnologien verbunden war. Wenn sie erklärt: “All violence is the illustration of a pathetic stereotype” (Alle Gewalt ist die Illustration eines erbärmlichen Stereotyps), dann prangert sie nicht nur Gewalt an, sondern zeigt, wie diese Gewalt in der Organisation unseres sozialen Raums verankert ist, wie sie “architektonisch gestaltet” ist.

Im Jahr 2016, für ihre Installation in der National Gallery of Art in Washington, beschränkte sich Kruger nicht darauf, Werke aufzuhängen, sie schuf ein Gesamtenvironnement, in dem der Betrachter mit seinen eigenen Vorurteilen und Widersprüchen konfrontiert wird. Indem sie die Treppen in Textflächen verwandelte (“Not Dead Enough”, “Not Loud Enough”), macht sie die Architektur selbst zur Botschaft, zu einem Protestschrei. Der Raum ist nicht länger der neutrale Behälter des Werks, sondern wird zum Werk selbst, ein komplexes semiotisches System, das uns zwingt, unsere Beziehung zur Welt neu zu überdenken.

In ihrem Projekt für Seattle, bei dem ein historisches Hangar in eine Gedenkstätte umgewandelt werden sollte, zeigte Kruger ihr tiefes Verständnis für das, was der Architekt Bernard Tschumi als “l’architecture de la disjonction” [7] bezeichnet, eine Architektur, die bewusst Spannungen und Widersprüche erzeugt, um die sozialen Kräfte offenzulegen, die am Werk sind. Als das Gebäude trotz des genehmigten Projekts abgerissen wurde, verwandelte Kruger diesen Akt der Zerstörung in ein neues Werk, indem sie den leeren Raum mit brennenden Fragen umfasste: “Who makes history?” “What disappears?” “What remains?” (“Wer macht Geschichte?” “Was verschwindet?” “Was bleibt?”). Diese Fähigkeit, selbst die Zerstörung ihres Projekts in einen neuen künstlerischen Vorschlag zu integrieren, zeigt ihre tiefe Beherrschung der architektonischen und politischen Fragen des Raums.

So begnügt sich Barbara Kruger nicht damit, Architektur nur als Träger zu nutzen; sie denkt architektonisch. Sie versteht, dass, wie Winston Churchill schrieb, “wir formen unsere Gebäude, dann formen unsere Gebäude uns” [8]. Ihre Installationen erinnern uns daran, dass Raum niemals unschuldig ist und jede architektonische Konfiguration eine politische Weltanschauung in sich trägt.

Kunst als Virus: Ansteckung und Widerstand

Angesichts eines Systems, das alles vereinnahmt, sogar Kritik, welche Strategie sollte man verfolgen? Barbara Kruger hat ihre gefunden: ein Virus zu werden, das das System von innen heraus infiziert. Ihre künstlerische Praxis funktioniert als eine Form des “semiotischen Sabotage”, um den Begriff des Theoretikers Umberto Eco [9] aufzugreifen.

Wenn die Marke Supreme ihre Ästhetik übernimmt, um Skateboards und Streetwear zu verkaufen, wenn unzählige Werbetreibende ihren visuellen Stil imitieren, um Produkte zu verkaufen, nimmt Kruger das nicht übel, sie passt sich an. In ihrer Installation “Untitled (That’s the way we do it)” (2011/2020) reappropriiert sie diese Kopien und Nachahmungen und schafft ein Meta-Werk, das den viralen Umlauf von Zeichen in unserer Kultur offenlegt. Sie versteht, wie Eco, dass es bei der “semiotischen Guerilla” nicht darum geht, die Botschaft zu kontrollieren, sondern die Kommunikationskanäle zu stören.

Diese virale Strategie erklärt auch, warum Kruger sich weigert, ihre Arbeit auf ein einziges Medium oder einen einzigen Kontext zu beschränken. Sie entwirft T-Shirts, Plakate, Werbetafeln, Magazincover, Postkarten, alle Mittel, um ihre Botschaft zu verbreiten. Sie arbeitet mit Architekten zusammen, schreibt Filmkritiken, konzipiert Werbekampagnen. Wie sie selbst erklärt, ermöglicht ihr diese Vielfalt, “die Begrenzungen der Berufung zu hinterfragen” [10] und der institutionellen Vereinnahmung zu entgehen.

Die Art und Weise, wie Kruger den öffentlichen Raum mit ihren provokanten Botschaften besetzt, erinnert an die Taktiken des “Détournement”, die Guy Debord und die Situationisten empfehlen. Wenn sie “Your body is a battleground” an die Wände von New York klebt, wenn sie Busse in Protestflächen verwandelt, praktiziert sie das, was Debord “Détournement als Verneinung und als Vorbote” [11] nannte, die Verneinung der bestehenden Ordnung und den Vorboten einer möglichen neuen Ordnung.

Was Kruger jedoch auszeichnet, ist ihr Verständnis, dass Widerstand nicht mehr von einem Raum außerhalb des Systems ausgehen kann. In einer Welt, in der es, wie sie selbst sagt, “outside the market there is nothing, not a piece of lint, a cardigan, a coffee table, a human being” [12] (Außerhalb des Markts gibt es nichts, nicht einmal ein Fusselchen, einen Pullover, einen Couchtisch, einen Menschen), ist die einzige praktikable Strategie die virale Infiltration. Ihre Werke beanspruchen nicht, einen reinen, unkontaminierten Raum einzunehmen; sie umarmen diese Kontamination als die Bedingung ihrer Wirksamkeit.

Diese virale Taktik erreicht ihren Höhepunkt in ihren jüngsten Installationen wie “No Comment” (2020), in denen sie Katzen in Toilettenschüsseln, verschwommene Selfies und Zitate von Voltaire und Kendrick Lamar nebeneinanderstellt. Diese chaotische Mischung aus Popkultur und Philosophie, aus Trivialem und Tiefgründigem, spiegelt perfekt unsere zeitgenössische Erfahrung mit sozialen Medien wider. Kruger begnügt sich nicht mit Kritik an dieser Erfahrung, sie reproduziert und verstärkt sie bis ins Absurde und schafft das, was die Medientheoretikerin Katherine Hayles eine “Feedback-Schleife” [13] (einen Teufelskreis) zwischen System und seiner Kritik nennen würde.

Indem sie sich weigert, sich auf eine stabile künstlerische Identität festzulegen, durch die Vervielfältigung von Formaten und Kontexten, praktiziert Kruger das, was Deleuze und Guattari eine “Nomadologie” [14] nennen würden, ein ständig in Bewegung befindliches Denken, das sich den festen Machtstrukturen entzieht. Sie ist, wie sie schreiben, “immer in der Mitte, zwischen den Dingen, Intersein, Intermezzo” [15].

Diese nomadische Strategie macht Kruger zu einer Künstlerin, die besonders gut für unsere Zeit konstanter Flüsse und schneller Veränderungen geeignet ist. Während so viele “politische” Künstler durch ihren institutionellen Erfolg neutralisiert werden, überrascht, provoziert und irritiert Kruger uns weiterhin. Ihre Weigerung jeder festen Definition, ihre Fähigkeit zur Mutation und Anpassung machen sie nicht nur zu einer einfachen Kommentatorin unserer Zeit, sondern zu einer echten kulturellen Überlebenskünstlerin, einer Künstlerin, die verstanden hat, dass in einer viralen Welt nur virale Kunst wirklich wirksam sein kann.

Die unmögliche Weitergabe

Barbara Kruger ist überall und nirgendwo zugleich. Ihre Ästhetik hat unsere visuelle Kultur so sehr durchdrungen, dass sie fast unsichtbar geworden ist, wie die Luft, die wir atmen. In einer Welt, die von Bildern und Slogans übersättigt ist, in der Jugendliche beim Besuch einer Kruger-Ausstellung sagen können, dass sie “Supreme-Vibes vermittelt”, erreicht die Ironie ihren Höhepunkt. Wie ein Kritiker bei ihrer Ausstellung in Chicago bemerkte: “It’s giving me Supreme vibes” [16] (Es hat diesen kleinen Supreme-Touch), was die ursprüngliche Beziehung zwischen der Künstlerin und ihren Nachahmern völlig auf den Kopf stellt.

Diese Auflösung des Autors in seinem Werk verweist auf das, was Michel Foucault als “den Tod des Autors” [17] theoretisierte. Kruger selbst scheint dieses Verschwinden vorweggenommen zu haben, indem sie sich ständig weigert, ihre Person zum Mittelpunkt ihrer Kunst zu machen. Im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Künstlerinnen, die gewissenhaft ihr öffentliches Image aufbauen, hat Kruger immer dagegen angekämpft, ihr Bild zu reproduzieren. Ihr Gesicht erscheint fast nie, Interviews sind selten, ihre physische Präsenz tritt zugunsten ihrer Botschaften zurück.

Diese Auflösung des Autors ist keine einfache Eitelkeit, sondern eine bewusste Strategie, die die Wirkung ihrer Arbeit verstärkt. Indem sie ihre Präsenz so geisterhaft wie möglich macht, verwandelt Kruger ihre Werke in anonyme Botschaften, in Wahrheiten, die spontan aus den Wänden der Stadt zu entstehen scheinen, wie die Graffiti eines urbanen Propheten. Sie praktiziert, was Susan Sontag “die Ästhetik des Schweigens” [18] nannte, diese radikale Form der Kommunikation, die durch Subtraktion statt durch Addition funktioniert.

Dieses geplante Verschwinden der Künstlerin hinter ihrem Werk erhält eine besonders ergreifende Dimension, wenn man die historische Rolle Krugers bei der Durchsetzung von Künstlerinnen betrachtet. In einer Zeit, in der Frauen laut Debra Brehmer “schreien mussten, um gesehen zu werden” [19], fand Kruger einen anderen Weg: sich nicht als Subjekt durchzusetzen, sondern als Autorin zu verschwinden, damit ihre Botschaften umso kraftvoller widerhallen.

Diese Strategie erreicht ihren Höhepunkt in den jüngsten Installationen wie “Thinking of You. I Mean Me. I Mean You” in der Serpentine Gallery in London, wo der Besucher buchstäblich von einer Flut von Worten und Bildern überwältigt wird, die sich drehen, überlappen und aneinanderstoßen. Alexandra De Taddeo beschreibt die Erfahrung als “eine Welt in Trümmern” [20], in der die traditionellen Orientierungspunkte, einschließlich der Figur der Künstlerin, verschwunden sind.

Es ist genau diese Auflösung, die die zeitgenössische Kraft von Kruger ausmacht. In einer Welt, in der Authentizität zu einer Ware wie jeder anderen geworden ist, in der “Content Creator” sogar ihre intimsten Momente monetarisieren, stellt Krugers freiwilliges Verschwinden vielleicht die ultimative Form des Widerstands dar. Sie praktiziert das, was der Schriftsteller Édouard Glissant “das Recht auf Undurchsichtigkeit” [21] nannte, die Weigerung, auf eine transparente, konsumierbare Identität reduziert zu werden.

Vielleicht liegt die größte Leistung Krugers für die zeitgenössische Kunst in der Spannung zwischen der Allgegenwart ihres Stils und dem Fehlen ihrer Person. Sie erinnert uns daran, dass Kunst nicht der Ausdruck einer Individualität ist, sondern eine Form der Kommunikation, ein Dialog mit der Welt. Wie Adrian Searle schreibt, sind ihre Worte “Zeitbomben, prophetische Detonationen, die nie aufhören” [22]. Und gerade weil sie scheinbar aus dem Nichts kommen, erreichen sie uns überall.

Wenn Kruger erklärt “I shop therefore I am” (Ich konsumiere also bin ich), wenn sie betont “Your body is a battleground” (Dein Körper ist ein Schlachtfeld), wenn sie fragt “Who is beyond the law?” (Wer steht über dem Gesetz?), dann sind diese Worte nicht ihre eigenen, sie gehören uns. Sie gehören uns, ebenso wie die Fragen, die sie aufwerfen. Und vielleicht ist das die größte Meisterleistung dieser Künstlerin, die so gut verstanden hat, dass in einer von Botschaften übersättigten Welt die stärkste Botschaft jene ist, die keinen Absender zu haben scheint.

Also, was machen wir jetzt?

So stehen wir da bei Barbara Kruger, ihr Snobs. Eine Künstlerin, die unsere visuelle Kultur so stark geprägt hat, dass wir kaum noch wissen, ob sie die Werbung imitiert oder die Werbung sie. Eine Frau, die die Waffen des Systems nutzte, die Verführungskraft der Bilder, die Kraft der Slogans, , um es von innen zu unterwandern. Eine Schöpferin, die sich nicht definieren lässt, die sich zwischen Kategorien wie ein Aal zwischen den Händen eines unbeholfenen Fischers schlängelt.

Das ist die ganze Kraft und das ganze Paradoxon ihrer Arbeit. Indem Kruger sich die Codes kapitalistischer Kommunikation aneignet, riskiert sie ständig, von genau diesem System, das sie kritisiert, vereinnahmt zu werden. Aber gerade diese gefährliche Nähe, diese wechselseitige Kontamination, verleiht ihrer Kunst ihre subversive Kraft. Wie ein Impfstoff, der eine abgeschwächte Version des Virus enthält, um unsere Immunabwehr zu stimulieren, impft uns Krugers Kunst gegen mediale Manipulation, indem sie deren eigene Methoden verwendet.

In einer Welt, in der Aufmerksamkeit zur seltensten Ressource geworden ist, in der wir ständig von Botschaften angesprochen werden, die uns zum immer mehr Konsum auffordern, bietet Kruger ein paradoxes Gegengift: mehr Botschaften, mehr Bilder, aber Botschaften, die sich aufheben, widersprechen, ihre eigene Mechanik offenbaren. Diese Strategie der Überbietung erreicht ihren Höhepunkt in Installationen wie “Untitled (No Comment)” (2020), in denen der Betrachter mit Bildern und Klängen bombardiert wird, bis zur Sättigung.

Täuschen Sie sich nicht: Hinter der scheinbaren Einfachheit ihrer Slogans verbirgt sich ein scharfsinniges Intellekt, ein tiefes Verständnis der Mechanismen der menschlichen Psyche. Kruger weiß, dass wir das begehren, was uns fehlt, dass wir das kaufen, wovon wir glauben, dass wir es sind, statt dessen, was wir brauchen, dass wir uns durch unseren Besitz genauso definieren wie durch unsere Überzeugungen. Und anstatt uns zu predigen, hält sie uns einen Spiegel vor, zwar verzerrt, aber dennoch einen Spiegel.

Mit fast 80 Jahren überrascht, erschüttert und reizt uns diese Künstlerin weiterhin. Sie weigert sich, in einer Haltung zu verharren, zur Karikatur ihrer selbst zu werden. Jede neue Ausstellung ist eine Neuerfindung, eine Infragestellung ihres eigenen Erbes. Diese Fähigkeit, zeitgenössisch zu bleiben, die Veränderungen unserer Kultur aufgreifend, ohne ihre unverwechselbare Stimme zu verlieren, macht sie weit mehr als nur zu einer historischen Figur der feministischen Kunst der 1980er Jahre.

Was die Größe von Barbara Kruger vielleicht weniger ausmacht, ist das, was sie uns sagt, sondern vielmehr die Art und Weise, wie sie uns zwingt zuzuhören. In einer Kultur des endlosen Scrollens, in der Bilder vorbeiziehen, ohne Spuren zu hinterlassen, halten ihre Werke uns an, sprechen uns an, schütteln uns durch. Sie schaffen das, was Walter Benjamin “einen Moment der Gefahr”[23] genannt hätte, diesen flüchtigen Augenblick, in dem historisches Bewusstsein wie ein Blitz aufleuchtet und die Gegenwart von innen erhellt.

Also das nächste Mal, wenn Sie eines ihrer Werke sehen, bleiben Sie stehen. Schauen Sie wirklich hin. Lesen Sie wirklich. Und fragen Sie sich, ob nicht Sie es sind, der betrachtet, Sie der gelesen wird, Sie der von diesen Bildern entschlüsselt wird, die scheinen, Sie zu entschlüsseln. Denn genau darin liegt das Genie von Barbara Kruger: In einer Welt, in der wir Bilder konsumieren, hat sie Bilder geschaffen, die uns konsumieren.


  1. Orwell, George. 1984. London: Secker & Warburg, 1949.
  2. Orwell, George. “Politik und die englische Sprache” in Shooting an Elephant and Other Essays. London: Secker & Warburg, 1950.
  3. Koolhaas, Rem. Junkspace. Paris: Payot & Rivages, 2011.
  4. Le Corbusier. Vers une architecture. Paris: G. Crès et Cie, 1923.
  5. Kruger, Barbara et al. “Imperfect Utopia.” Proposal for North Carolina Museum of Art, 1988.
  6. Deitcher, David. “Barbara Kruger: Resisting Arrest.” Artforum, 1991.
  7. Tschumi, Bernard. Architecture and Disjunction. Cambridge: MIT Press, 1996.
  8. Churchill, Winston. Rede vor dem Unterhaus, 28. Oktober 1943.
  9. Eco, Umberto. Der Krieg der Fälschungen. Paris: Grasset, 1985.
  10. Kruger, Barbara, zitiert in “Theory, or guiding principles” für das Projekt “Imperfect Utopia”, 1988.
  11. Debord, Guy. Die Gesellschaft des Spektakels. Paris: Buchet/Chastel, 1967.
  12. Kruger, Barbara, zitiert in Carol Squiers, “Diversionary (Syn)tactics: Barbara Kruger Has Her Way with Words”, Artnews 86, Februar 1987.
  13. Hayles, Katherine. Wie wir posthuman wurden. Chicago: University of Chicago Press, 1999.
  14. Deleuze, Gilles und Félix Guattari. Tausend Plateaus. Paris: Éditions de Minuit, 1980.
  15. Ebd.
  16. Smith, Roberta. “Barbara Kruger: A Way With Words.” The New York Times, 14. Juli 2022.
  17. Foucault, Michel. “Was ist ein Autor?” Bulletin de la Société française de philosophie, 63. Jahrgang, Nr. 3, Juli-September 1969.
  18. Sontag, Susan. “Die Ästhetik der Stille” in Styles of Radical Will. New York: Farrar, Straus und Giroux, 1969.
  19. Brehmer, Debra. “Eine Barbara Kruger-Retrospektive vermischt Kapitalismus und seine Kritik.” Hyperallergic, 6. Januar 2022.
  20. De Taddeo, Alexandra. “Rezension, Barbara Kruger: Thinking of You. I mean Me. I mean You, in der Serpentine, Heartbreak-Ausgabe.” Medium, 18. Februar 2024.
  21. Glissant, Édouard. Poetik der Relation. Paris: Gallimard, 1990.
  22. Searle, Adrian. “‘So subtil wie ein Ziegelstein ins Gesicht’: Barbara Krugers kakophonische Trumpspeak-Vorahnungen.” The Guardian, 31. Januar 2024.
  23. Benjamin, Walter. “Über den Begriff der Geschichte” in Werke III. Paris: Gallimard, 2000.
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Referenz(en)

Barbara KRUGER (1945)
Vorname: Barbara
Nachname: KRUGER
Geschlecht: Weiblich
Staatsangehörigkeit(en):

  • Vereinigte Staaten

Alter: 80 Jahre alt (2025)

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