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Der existenzielle Hypersurrealismus von Azim F. Becker

Veröffentlicht am: 16 April 2025

Von: Hervé Lancelin

Kategorie: Kunstkritik

Lesezeit: 8 Minuten

Azim F. Becker schafft das, was er “Hypersurrealismus” nennt: Skulpturen, bei denen hyperrealistische Silikon-Gliedmaßen aus verknüpften Stoffen herausragen. Sie lassen uns ratlos zurück angesichts dieser fragmentierten Körper, die unsere Wahrnehmung der Realität in Frage stellen. Durch diese Spannung zwischen Vertrautem und Fremdem lädt er uns ein, unsere visuellen Gewissheiten neu zu überdenken.

Hört mir gut zu, ihr Snobs, Azim F. Becker überrascht uns, schlägt uns mit seinen hyperrealistischen Silikongliedmaßen, die aus verknoteten Stoffen hervorragen, und hinterlässt uns verwirrt, orientierungslos und köstlich perplex. Dieser deutsche Künstler, 1991 in Osnabrück geboren, einer der drei Preisträger des renommierten Luxembourg Art Prize 2024, erschafft das, was er “Hypersurrealismus” nennt, ein Begriff, der klingt wie eine Krankheit, die man sich einfängt, nachdem man an den Wänden einer Pariser Galerie im Marais an einem Samstagabend geleckt hat.

Sein Werk übersteigt die herkömmliche Sprache, um eine viszerale Wahrheit zu verkörpern: Hier ist ein Künstler, der verstanden hat, dass wir in einer Welt leben, in der die Realität selbst uns fremd geworden ist! Seine Skulpturen sind wie die Gespräche, die man um ein Uhr morgens mit Fremden in einer Bar führt, die im Moment tiefgründig erscheinen, an die man sich aber am nächsten Morgen nur noch vage erinnert, nur dass Becker sie im Silikon eingefroren hat, damit wir sie nüchtern betrachten können.

Sein Werk “Muckelig (Gemütlich)” zeigt zwei Hände, die aus einem festgeknoteten Fleecestoff hervorragen, als ob jemand in einem zu kleinen Pullover gefangen wäre oder sich vielleicht bewusst darin einkuschelt. Es ist der Unterschied zwischen einem kuscheligen Gefängnis und einem komfortablen Zufluchtsort, und genau diese Mehrdeutigkeit macht seine Arbeit so fesselnd. Diese hyperrealistischen Gliedmaßen scheinen zu sagen: “Hey, schau mich an, ich bin echt!”, während ihr surreales Umfeld flüstert: “Aber vielleicht bin ich es doch nicht.”

Beckers Ansatz erinnert eigentümlich an Eugène Ionescos Vorstellungen vom Theater des Absurden, der schrieb: “Das Absurde existiert nicht ohne eine unzerstörbare Hoffnung, ohne eine ewige Verurteilung” [1]. Diese Spannung zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Festhalten und Loslassen, ist in “Sprout’n Prop” spürbar, wo eine Hand eine erhobene Faust stützt. In einer Welt, in der Gesten oft zu Symbolen reduziert werden, wird eine Faust unausweichlich politisch, und Becker lädt uns ein, unsere automatischen Assoziationen zu überdenken.

Ionesco selbst hätte diese Art geschätzt, wie Becker den fragmentierten Körper nutzt, um das Unaussprechliche zu kommunizieren. In “Die kahle Sängerin” zeigte Ionesco, wie Sprache zu einem Gefängnis werden kann, zu einer Reihe leerer Formeln. Ebenso verwendet Becker hyperrealistische Körperfragmente, um zu zeigen, wie unsere Wahrnehmung des menschlichen Körpers kodifiziert wurde, voll von vorgefertigten Bedeutungen, die wir auferlegen, bevor wir wirklich hinschauen. Wenn wir eine erhobene dunkle Faust sehen, verbindet unser durch soziale Medien gesättigtes Gehirn sie sofort mit zeitgenössischen sozialen Bewegungen und übersieht dabei andere mögliche Interpretationen.

Beckers künstlerischer Ansatz wird besonders relevant, wenn er fragt: “Inwieweit beeinflussen Hautfarben unser Denken und Assoziieren?” Diese Frage hallt tief in unserer von Identität besessenen Zeit wider, in der Kunst oft eher auf ihren vermeintlichen politischen Wert reduziert wird als auf ihren ästhetischen oder emotionalen Wert. Becker, als Künstler, der sich mit dunkler Haut identifiziert, fragt sich, ob er schaffen kann, ohne dass seine Arbeit automatisch als politischer Kommentar gelesen wird, nur aufgrund seiner Identität. Das ist eine Frage, die nur wenige Künstler so direkt stellen.

Der rumänische Philosoph Emil Cioran hätte sicherlich Resonanz in dieser bewussten Mehrdeutigkeit von Becker gefunden. Cioran, dieser Meister des leuchtenden Pessimismus, schrieb: “Man bewohnt kein Land, man bewohnt eine Sprache. Eine Heimat ist das und nichts anderes” [2]. Ebenso bewohnt Becker nicht das definierte Gebiet der zugewiesenen Identität, sondern die von ihm geschaffene visuelle Sprache, diesen Hyperrealismus, in dem fragmentierte Körper einen universellen Dialekt menschlicher Emotionen sprechen.

Ciorans Gedanken zur Absurdität der menschlichen Existenz finden eine perfekte Illustration in “Foot in a cordpantsknot”, wo ein Fuß aus einer zusammengebundenen Hose hervortritt. Dieses Bild ruft Immobilität, Fesselung, aber vielleicht auch eine seltsame Form von Trost in der Zwänge hervor, genau wie Cioran eine Form der Befreiung in seinem radikalen Pessimismus fand. Der Philosoph behauptete, dass “Alles, was existiert, mir weh tut, und alles, was nicht existiert, ebenfalls” [3]. Dieses doppelte Leiden, das des Seins und das des Könnens, wird in Beckers Werken wunderbar eingefangen, wo das Reale (diese silikonartigen Gliedmaßen von atemberaubendem Realismus) mit dem Unmöglichen (ihrer surrealen Anordnung) koexistiert.

Ciorans Faszination für das Paradoxon findet ein Pendant in Beckers Vorgehensweise: “Bewusstsein ist weit mehr als der Stachel des Unbekannten, es ist der Sitz des Geheimnisses der Klarheit” [4]. Diese paradoxe Klarheit steht im Zentrum von Beckers Arbeit, der den Hyperrealismus nutzt, um uns an unserer Wahrnehmung der Realität zweifeln zu lassen. Seine Skulpturen sind sowohl vertraut als auch fremd, intim und entfremdend.

Der Künstler sagt uns: “Ich stelle die Betrachter nicht der Realität gegenüber; sie stellen sich ihr selbst gegenüber, wenn sie versuchen, meine surrealistischen Skulpturen in ihrer eigenen Realität und Gegenwart zu übersetzen.” Diese Aussage hätte sicherlich bei Cioran Anklang gefunden, der meinte, unser Verhältnis zur Welt werde immer durch unsere Illusionen und subjektiven Interpretationen vermittelt. Sowohl für den Philosophen als auch den Künstler liegt die Wahrheit in dem Raum zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir zu sehen glauben.

Knoten sind allgegenwärtig in Beckers Werk, verknüpfte Textilien, verwobene Gliedmaßen, und sie fungieren als visuelle Metapher für die Widersprüche des Daseins, die Cioran in seinen Schriften erforschte. Diese Knoten repräsentieren unsere Versuche, dem Leben Sinn zu geben, Verbindungen in einer fragmentierten Welt zu schaffen. Manchmal trösten uns diese Verbindungen (wie in “Muckelig”), manchmal fesseln sie uns (wie in “Foot in a cordpantsknot”).

Was Becker von vielen zeitgenössischen Künstlern unterscheidet, ist seine Weigerung, uns eine fertige Interpretation seiner Arbeit zu servieren. Er auferlegt seinen Werken keine feste Bedeutung, sondern lässt sie offen für sich verändernde Interpretationen je nach zeitlichem und persönlichem Kontext. Dieser Ansatz erinnert an Ciorans Abneigung gegen geschlossene philosophische Systeme und seine Vorliebe für Fragmente und Aphorismen, die Raum für Mehrdeutigkeit und Widerspruch lassen.

Beckers Skulpturen hinterfragen auch unser Verhältnis zur Zeit. Wie er erklärt, entstehen seine Werke “mit einer direkten Referenz auf den gegenwärtigen Moment, sind gleichzeitig aber zeitlos und nicht an die aktuelle Realität gebunden”. Diese Spannung zwischen dem Augenblickhaften und dem Ewigen stand auch im Zentrum von Ciorans Anliegen, der schrieb: “Die Zeit ist ein Geheimnis, das uns durch ihre Gegenwart und Abwesenheit herausfordert” [5]. Beckers körperliche Fragmente scheinen in einem zeitlichen Zwischenraum zu schweben, gleichzeitig im Moment ihrer Schöpfung eingefroren und offen für unendlich viele zukünftige Interpretationen.

Die Theatralik von Beckers Arbeit verdient ebenfalls besondere Beachtung. Seine Skulpturen sind wie eingefrorene Schauspieler mitten in einer Aufführung, deren Anfang und Ende wir nicht kennen. Ionesco behauptete in seiner Verteidigung des Theaters des Absurden, dass “Das Komische, weil es die Intuition des Absurden ist, mir verzweifelter erscheint als das Tragische” [6]. Diese Verschmelzung von Komik und Tragik ist in Beckers Werken spürbar, die zwischen schwarzem Humor (diese Gliedmaßen, die auf unpassende Weise aus gewöhnlichen Stoffen herausragen) und dem zutiefst Beunruhigenden (die verstörende Realitätsnähe dieser menschlichen Fragmente) schwanken.

Die Materialität von Beckers Werken, dieser Kontrast zwischen der Flexibilität des Textils und dem simulierten Fleisch aus Silikon, erzeugt eine taktile Dissonanz, die die konzeptionelle Botschaft verstärkt. Unsere Körper sind zugleich unsere Rüstung und unser Gefängnis, unser Ausdrucksmittel und unsere Begrenzung. Wie Ionesco schrieb: “Wir sind durch die Fantasien unseres Denkens von uns selbst und der sichtbaren Welt getrennt” [7]. Beckers Skulpturen materialisieren diese Trennung, diese Gliedmaßen, die zu entkommen scheinen aus ihrer textilen Hülle, so wie unser Bewusstsein versucht, die Grenzen des Körpers zu überwinden.

Die Anonymität der Körper in Beckers Werk, reduziert auf Gliedmaßen ohne Gesicht, ohne klare Identität, spiegelt Ionescos Sicht auf die Entmenschlichung des Individuums in der modernen Gesellschaft wider. In “Rhinocéros” zeigte Ionesco, wie die Individualität durch soziale Konformität ausgelöscht werden kann. Ebenso reduziert Becker seine Sujets auf anonyme Fragmente, während er paradox unsere Neigung hinterfragt, diese Fragmente sofort nach Hautfarbe oder anderen Identitätsmerkmalen zu kategorisieren.

Die Frage der Wahrnehmung, die im Werk von Becker zentral ist, trifft auch auf Ionescos Anliegen hinsichtlich der menschlichen Kommunikation. Der Dramatiker erforschte, wie die Sprache, die uns eigentlich näherbringen sollte, zum Hindernis für echtes Verständnis werden kann. Becker tut dasselbe mit der visuellen Körpersprache: jene Gesten und Haltungen, von denen wir instinktiv glauben, sie zu verstehen, die jedoch tatsächlich mit unseren eigenen Projektionen und Vorurteilen belastet sind.

Was bei Becker besonders bemerkenswert ist, ist seine Fähigkeit, Werke zu schaffen, die zugleich politisch aufgeladen und politisch mehrdeutig sind. In einer zeitgenössischen Kunstlandschaft, die oft vom Didaktischen dominiert wird, in der Kunst eine klare und tugendhafte “Botschaft” haben muss, stellt Becker lieber Fragen, anstatt Antworten aufzuzwingen. Wie Cioran schrieb: “Man kann nur Kandidat für den eigenen Untergang sein. Jede andere Kandidatur ist Hochstapelei” [8]. Becker lehnt die Hochstapelei des Künstlers als moralischen oder politischen Führer ab und stellt uns lieber unseren eigenen Widersprüchen gegenüber.

In dieser Erkundung von Azim F. Beckers Werk kann ich nicht umhin zu denken, dass seine Arbeit genau das darstellt, was die zeitgenössische Kunst verzweifelt braucht: weniger Predigten, mehr Fragen; weniger Gewissheiten, mehr fruchtbare Mehrdeutigkeiten. In einer Kunstwelt, die von simplistischen Botschaften und austauschbaren Ästhetiken übersättigt ist, bietet Becker uns visuelle Rätsel, die sich einer schnellen Konsumierung und einfachen Verdauung widersetzen.

Sein Hypersurrealis mus ist nicht nur ein visueller Stil, sondern eine philosophische Haltung: das Eingeständnis, dass die Realität selbst so seltsam geworden ist, dass nur der Surrealismus sie mit Genauigkeit annähern kann. Wie er selbst sagt: “In Zeiten, in denen die Realität fremd wird, ist das Surreale der Realität am nächsten.” Dieser Satz könnte ebenso gut von Cioran oder Ionesco stammen, diesen Erkundern des Absurden, die verstanden haben, dass manchmal der direkteste Weg zur Wahrheit über den Umweg des Seltsamen führt.

Also, das nächste Mal, wenn Sie einer Silikonhand oder einem Silikonfuß begegnen, die aus einem Stoffknoten herausragen, fragen Sie sich nicht nur, was der Künstler ausdrücken wollte, sondern auch, was dieses Bild über Ihre eigenen Vorannahmen und mentalen Assoziationen enthüllt. Genau in diesem Raum der persönlichen Reflexion liegt die wahre Kraft der Kunst von Azim F. Becker. Und gerade wegen dieser Fähigkeit, uns ins Wanken zu bringen hinsichtlich der Grundlagen unserer automatischen Wahrnehmungen, uns in unserem interpretativen Komfort zu destabilisieren, behauptet sich sein Werk als eine der einzigartigsten und notwendigsten Stimmen der zeitgenössischen Kunstszene.


  1. Ionesco, Eugène, Notizen und Gegen-Notizen, Gallimard, 1966.
  2. Cioran, Emil, Geständnisse und Anathemen, Gallimard, 1987.
  3. Cioran, Emil, Der schlechte Demiurg, Gallimard, 1969.
  4. Cioran, Emil, Die Versuchung zu existieren, Gallimard, 1956.
  5. Cioran, Emil, Schlussfolgerungen der Bitterkeit, Gallimard, 1952.
  6. Ionesco, Eugène, Notizen und Gegen-Notizen, Gallimard, 1966.
  7. Ionesco, Eugène, Bruchstücke eines Tagebuchs, Mercure de France, 1967.
  8. Cioran, Emil, Vom Nachteil, geboren zu sein, Gallimard, 1973.
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Referenz(en)

Azim F. BECKER (1991)
Vorname: Azim F.
Nachname: BECKER
Weitere Name(n):

  • Azim Fabian Becker

Geschlecht: Männlich
Staatsangehörigkeit(en):

  • Deutschland

Alter: 34 Jahre alt (2025)

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