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Guillermo Kuitca: Kartographie des Fehlens

Veröffentlicht am: 5 Oktober 2025

Von: Hervé Lancelin

Kategorie: Kunstkritik

Lesezeit: 13 Minuten

Guillermo Kuitca schafft Gemälde, in denen Landkarten, Architekturpläne und Theaterdiagramme die geheimen Territorien menschlicher Erfahrung offenbaren. Dieser argentinische Künstler erforscht die Themen Erinnerung, Verschiebung und Abwesenheit durch eine Ästhetik des von seinen eigenen Geistern bewohnten Raums.

Hört mir gut zu, ihr Snobs: Guillermo Kuitca ist kein gewöhnlicher Maler. Dieser 64-jährige Argentinier, der seit dem Alter von dreizehn Jahren ausstellt, hat ein Werk geschaffen, das unsere Gewissheiten darüber, was zeitgenössische Malerei sein kann und sein soll, herausfordert. Weit entfernt von flüchtigen Trends und medialen Sensationen entwickelt Kuitca seit mehr als vier Jahrzehnten eine bemerkenswert kohärente malerische Sprache, bei der jedes Bild als Teil eines größeren existenziellen Puzzles funktioniert. Seine letzte Ausstellung “Kuitca 86” im Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires zeigt einen Künstler, der unter der scheinbaren konzeptuellen Kühle seiner Karten, Pläne und Diagramme eine tief menschliche Sensibilität gegenüber Fragen von Erinnerung, Identität und Verschiebung verbirgt.

Das theatralische Erbe: Pina Bausch und die Szenographie des Intimen

Kuitcas Begegnung mit der Welt von Pina Bausch im Jahr 1980 ist einer der Schlüssel zum Verständnis seines Werks. Diese Offenbarung, die er als “verheerend” beschreibt, ist keine bloße ästhetische Einflussnahme, sondern eine wahre konzeptuelle Umwandlung. Bausch hatte den Tanz revolutioniert, indem sie davon ausging, dass “Menschen gehen können, und Gehen reicht aus”, ein essentialistischer Ansatz, der den jungen argentinischen Maler sofort fasziniert. Diese Philosophie der minimalen Bewegung, diese Fähigkeit, aus elementaren Gesten Bedeutung zu schaffen, durchdringt nun die gesamte Produktion Kuitcas.

In seinen frühen Serien wie “El Mar Dulce” (1983-84) und “Siete Últimas Canciones” (1986) zeigt sich der Einfluss Bauschs in einer szenografischen Annäherung an den malerischen Raum. Die Kompositionen entfalten sich wie fragmentierte Bühnen, auf denen Körper eine körperliche Dichte erlangen und in gleichzeitigen und auseinandergerissenen Szenen interagieren. Männer, die Frauen ziehen, Kinder, die sich an den Haaren nach unten ziehen, verstreute Stühle und Tische: Diese Bilder erinnern an das gestische Lexikon der deutschen Choreografin. Aber Kuitca begnügt sich nicht damit, ein visuelles Vokabular zu übernehmen; er macht sich die Logik des Tanztheaters zu eigen, diese Fähigkeit, Raum in ein emotionales Territorium zu verwandeln.

Die Theatralik bei Kuitca besteht niemals in einer bloßen Inszenierung. Sie beruht vielmehr auf einem Verständnis der Malerei als “theatralische Arena”, um seine eigenen Worte zu verwenden, in der der Künstler die Rolle des Regisseurs übernimmt. Dieser Ansatz erklärt, warum seine Gemälde, selbst die abstraktesten, immer eine latente narrative Dimension bewahren. Grundrisse von Wohnungen, Straßenkarten und Theaterdiagramme fungieren als leere Kulissen, die die geisterhafte Spur menschlicher Dramen tragen. Das Fehlen menschlicher Figuren in seinen reifen Werken bedeutet keine Flucht vor dem Menschen, sondern im Gegenteil eine Präsenz, definiert durch Abwesenheit, um die Formel der Kritiker zu verwenden.

Diese Ästhetik des Fehlens hat ihren Ursprung in Kuitcas Theatererfahrung. Da er selbst in den 1980er Jahren Theaterproduktionen leitete, insbesondere das Stück “El Mar Dulce”, das er 1984 gemeinsam mit Carlos Ianni inszenierte, versteht er, dass der Bühnenraum die Erinnerung an die Körper bewahrt, die ihn bewohnt haben. Seine späteren Gemälde funktionieren nach derselben Logik: Sie sind heimgesuchte Räume, Architekturen des Gedächtnisses, in denen noch die Echos vergangener Anwesenheiten widerhallen. Dieser Ansatz ermöglicht es ihm, über die reine Darstellung hinauszugehen und eine echte Dramaturgie des Raums zu schaffen.

Die Serie “Seven Last Songs” markiert den Höhepunkt dieses Einflusses von Pina Bausch. Der Raum weitet sich, während sich die Körper zurückziehen und nur physische (Betten und Stühle) und atmosphärische Spuren hinterlassen. Diese allmähliche Auflösung der menschlichen Figur stellt keine Verarmung dar, sondern eine Intensivierung: Indem Kuitca den Raum von seiner figurativen Dimension befreit, lädt er ihn mit einer bislang unbekannten psychologischen Dichte auf. Der häusliche Raum wird zum Ort, an dem das Gedächtnis eingeschrieben wird und verwandelt jede Leinwand in eine stille Partitur eines intimen Dramas.

Dieser Einfluss bleibt in seinen jüngsten Werken bestehen, insbesondere in “Kuitca 86” (2024), diesem Modell eines Atelierkünstlers, auf dem jedes Element Spuren von Farbspritzern trägt. Dieses Werk funktioniert als eine Mise en Abyme des schöpferischen Akts, ein Miniaturtheater, in dem das ewige Geheimnis der künstlerischen Schöpfung aufgeführt wird. Kuitca offenbart hier seine Schuld gegenüber Bausch: diese Fähigkeit, einen scheinbar neutralen Raum in ein von Affekten geladenes Gebiet zu verwandeln, diese Alchemie, die es ermöglicht, das Gefühl aus der reinsten Abstraktion hervorzubringen.

Architektur und Psychoanalyse: Die Pläne des Unbewussten

Die architektonische Dimension von Kuitcas Werk kann nicht unabhängig von seiner intellektuellen Ausbildung im Argentinien der 1970er-80er Jahre verstanden werden, einem Land, in dem die Psychoanalyse einen beträchtlichen kulturellen Einfluss genießt. Dieser analytische Ansatz zum Raum hat seine Wurzeln im freudianischen und lacanianischen Denken, das damals Buenos Aires durchdrang, eine Metropole, in der Architekten, Analysten und Künstler in einem ständigen Dialog über die Beziehungen zwischen Struktur und Psyche zusammenleben.

Die Wohnungspläne, die Kuitca seit Ende der 1980er Jahre obsessiv beschäftigen, sind nicht nur Ausdruck einer einfachen ästhetischen Faszination für geometrische Formen. Sie fungieren als Karten des Unbewussten, als Topologien, auf denen die intimen Territorien der menschlichen Erfahrung gezeichnet sind. Diese Serie entsteht aus einem Prozess des “Zoom-Out”, den der Künstler präzise beschreibt: Vom Bett zum Zimmer, vom Zimmer zur Wohnung, von der Wohnung zur Stadt, von der Stadt zur Welt. Diese skalare Progression offenbart eine analytische Logik, die an die psychoanalytische Therapie erinnert, bei der der Patient allmählich von seinen Symptomen zu deren tieferen Ursachen voranschreitet.

Der Wohnungstyp, den Kuitca obsessiv malt, fungiert als Ikone der städtischen Mittelschichtfamilie. Diese Betonung eines standardisierten Architekturmodells drückt seine Faszination für die Strukturen aus, welche geheim unser Dasein organisieren. Wie der Analytiker die unbewussten Mechanismen aufdeckt, die unser Verhalten steuern, enthüllt Kuitca die architektonischen Vorrichtungen, die unsere Intimität prägen. Diese Pläne sind niemals neutral: Sie tragen manchmal eine Dornenkrone, zeigen Risse, füllen sich mit Knochen oder zieren Flecken, die an Körperflüssigkeiten erinnern. Diese Organik der Architektur offenbart die triebhafte Dimension des häuslichen Raums.

Die Serie “People on Fire” geht diese Logik weiter, indem sie geografische Karten in Familiengenealogien verwandelt. Kuitca ersetzt dort die Ortsnamen durch Personennamen und schafft Beziehungs-Karten, die an die in der systemischen Familientherapie verwendeten Stammbaumkarten erinnern. Diese Substitution offenbart den Einfluss seiner Mutter, die Psychoanalytikerin ist, aber auch ein intuitives Verständnis der Mechanismen psychischer Übertragung. Die familiären Bindungen werden geografisch dargestellt und enthüllen ihre territoriale Dimension: Jede Familie bildet ein Territorium mit seinen Grenzen, Einflusszonen und Machtkonflikten.

Dieser psychoanalytische Ansatz des Raumes erklärt, warum Kuitca Orte mit emotionaler Aufladung bevorzugt: Theater, Krankenhäuser, Gefängnisse und Friedhöfe. Diese Institutionen funktionieren wie Kondensatoren kollektiver Emotionen, Räume, in denen sich die grundlegenden Ängste der menschlichen Existenz kristallisieren. Seine Theatergrundrisse, besonders die der renommierten Einrichtungen wie dem Metropolitan Opera oder La Scala, erfahren Verzerrungen, die die phantasmatische Belastung dieser Orte offenbaren. Unter Einfluss von Behandlungen mit warmem oder kaltem Wasser verflüssigen, verformen und wandern diese Diagramme über das Papier wie Formationen des Unbewussten, die an die Oberfläche steigen.

Das Werk “L’Encyclopédie (siete partes)” (2002) stellt den Höhepunkt dieser Reflexion über die Strukturen des Wissens dar. In Anlehnung an Diderots Projekt hinterfragt Kuitca unsere Obsession für Klassifikation und Archivierung von Wissen. Seine mit Flecken und Abtropfungen bedeckten Grundrisse scheinen in sich zusammenzufallen und verweigern damit ihre ursprüngliche Funktion. Diese Serie zeigt den Einfluss von Michel Foucault [1], dessen Arbeiten über disziplinarische Institutionen (Krankenhaus, Gefängnis, Irrenhaus) die politische Dimension der Architektur beleuchten. Bei Kuitca sind institutionelle Räume niemals neutral: Sie tragen die Spuren der Machtverhältnisse, die sie geformt haben.

Die aktuelle Serie “Family Idiot” (2020), deren Titel von Jean-Paul Sartre [2] entliehen ist, bringt diese Logik zu ihrem Ende. Inspiriert von Sartres monumentaler Studie über Flaubert wendet Kuitca darin eine vollständige analytische Methode an, die Marxismus, Psychoanalyse, Philosophie und Soziologie kreuzt, um die Entwicklung eines Künstlers zu verstehen. Dieser interdisziplinäre Ansatz offenbart seine Schuld gegenüber der argentinischen psychoanalytischen Tradition, die Fähigkeit, Familienstruktur und künstlerische Schöpfung in einer Analyse zu verbinden.

Die Poetik der Verschiebung

Kuitcas kartographische Obsession hat ihre Wurzeln in der historischen Erfahrung Argentiniens, eines Landes geprägt von aufeinanderfolgenden Migrationen und erzwungenen Umsiedlungen. Diese geopolitische Dimension seines Werks erfolgt nie durch direkte Anprangerung, sondern durch einen subtileren Zugang, bei dem die Poesie der Bewegung den kämpferischen Diskurs ersetzt.

Der Künstler entdeckt Karten genau zu dem Zeitpunkt, als Argentinien aus der Militärdiktatur (1976, 1983) hervorgeht, während der etwa 30.000 Menschen “verschwunden” sind. Diese zeitliche Koinzidenz ist nicht zufällig: Kuitcas Karten fungieren als Anti-Denkmäler für die Verschwundenen, als Räume, in denen die Erinnerung an jene, die keine Grabstätte haben, verankert werden kann. Im Gegensatz zu traditionellen Karten, die der Orientierung dienen, sind Kuitcas Karten als “Dispositive zum Verlieren” konzipiert, nach seinen eigenen Worten. Diese funktionale Umkehr spiegelt die Erfahrung einer Generation wider, die in Unsicherheit aufgewachsen ist und keine stabilen Orientierungspunkte hatte.

Seine erste Karte, die 1987 Deutschland gewidmet war, offenbart die persönliche Dimension dieser geografischen Obsession. Die Wahl dieses Landes ist nicht zufällig: Es verkörpert die Spannungen in Kuitcas Familiengeschichte, dessen Großeltern den russischen Pogromen entkamen, um Zuflucht in Argentinien zu finden, dem Land, das später Naziverbrecher aufnahm. Diese historische Schichtung verwandelt die Karte in ein zeitliches Zeugnis, auf dem sich Spuren aufeinanderfolgender Migrationen überlagern. Deutschland wird so zum Symbol einer heimgesuchten Geografie, in der jeder Ortsname die Erinnerung an kollektive Dramen trägt.

Die Karten auf Matratzen stellen den Höhepunkt dieser Reflexion über das Verdrängen dar. Indem Kuitca direkt auf diesen intimen Gegenständen malt, schafft er eine eindrucksvolle Überlagerung zwischen der Ebene des Körpers und der des Territoriums. Diese Werke rufen sofort die Erfahrung von Flüchtlingen hervor, die gezwungen sind, ihre wenigen Besitztümer in der Verbannung mitzunehmen. Die Matratzen werden zu Inseln der Häuslichkeit in der geografischen Weite, zu Fragmenten bewahrter Intimität trotz der Entwurzelung aus der Heimat.

Diese Poetik des Verdrängens findet ihren vollendetsten Ausdruck in der Installation von zwanzig Matratzen, die 1992 auf der Documenta IX in Kassel gezeigt wurde. In der Ausstellungsfläche aneinandergereiht wie in einem Notdormitorium, erinnern diese Objekte gleichzeitig an Flüchtlingslager, Notunterkünfte und Sterbehäuser. Jede Matratze trägt eine Karte des fragmentierten Europas, punktiert mit Knöpfen an den Standorten der großen Städte: Berlin, Warschau, Sarajevo. Diese Werke gewinnen im Kontext der damaligen blutigen Balkankriege eine besonders tragische Resonanz.

Die jüngste Entwicklung Kuitcas hin zu Grundrissen von Aufführungsorten verlängert diese Reflexion über Mobilität. Diese Veranstaltungsorte fungieren als Mikrokosmen, in denen ständig die Dialektik von Nähe und Ferne nachgespielt wird. Der Betrachter nimmt einen zugewiesenen Platz ein, doch seine Vorstellungskraft kann ihn zu unendlichen Territorien führen. Diese Ambivalenz zwischen Fixierung und Bewegung charakterisiert das gesamte Werk Kuitcas: Seine unbeweglichen Karten bergen die Möglichkeit der Reise, seine statischen Pläne vibrieren vor potenziellen Bewegungen.

Das modernistische Erbe neu betrachtet

Seit 2007 vollzieht Kuitca mit der Serie “Desenlace” eine kritische Rückkehr zum modernistischen Erbe, die die Reife seiner ästhetischen Reflexion offenbart. Diese Auseinandersetzung mit den Meistern der Abstraktion, Jackson Pollock, Joaquín Torres García, Georges Braque und Lucio Fontana, ist weder eine respektvolle Hommage noch eine ikonoklastische Dekonstruktion, sondern eine kreative Aneignung, die sein tiefes Verständnis der Herausforderungen der zeitgenössischen Malerei offenlegt.

Diese Serie markiert einen Wendepunkt in Kuitcas Werk, da sie seine Beziehung zur Kunstgeschichte explizit einräumt. Bis dahin blieben seine Bezüge implizit, eingebettet in ein Vorgehen, das Erfindung der Zitierung vorzieht. Mit “Desenlace” macht er einen weiteren Schritt, indem er direkt die Autorität der historischen Avantgarden hinterfragt. Seine Darstellungen dieser ikonischen Formen der Abstraktion fungieren als “leere Hüllen”, nach Ausdruck der Kritiker, vertraute, aber entkörperte Artefakte einer vorgeschriebenen Autorität.

Dieser Ansatz zeigt die verborgene Einflussnahme von Jorge Luis Borges [3], dessen literarisches Werk beständig die Beziehungen zwischen Original und Kopie, zwischen Authentizität und Simulakrum untersucht. Wie der argentinische Schriftsteller entwickelt Kuitca eine Ästhetik der kritischen Reproduktion, in der die scheinbare Treue eine fundamentale Subversion verbirgt. Seine “Pollock” oder „Braque” sind keine Pastiche, sondern Meditationen über die Möglichkeit von Originalität in der zeitgenössischen Kunst.

Diese Serie ist Teil einer weiter gefassten Überlegung zur kulturellen Übertragung, die Kuitca seit seinen Anfängen beschäftigt. Wie er in seinen Interviews betont, erfolgte seine künstlerische Ausbildung auf einem kulturellen “brachliegenden Gelände”, ohne echte argentinische künstlerische Tradition, auf die er zurückgreifen konnte. Diese ästhetische Waisenstellung erklärt seine Faszination für die Mechanismen der Übertragung und des Erbes. Seine jüngsten Werke funktionieren als Übungen in künstlerischer Genealogie, Versuche, eine kreative Abstammung in einem postkolonialen Kontext wiederherzustellen.

Der “cubitoide” Stil, der seine jüngsten Werke kennzeichnet, erweitert diese Überlegung. Diese fragmentierten und eckigen Motive, die seine Kompositionen seit 2007 strukturieren, sind kein bloßes Ausleihen aus dem historischen Kubismus, sondern eine Neuerfindung dessen Prinzipien im zeitgenössischen Kontext. Kuitca entwickelt hier eine originelle Synthese zwischen Abstraktion und illusionistischer Figuration, die seine Beherrschung zeitgenössischer malerischer Fragestellungen zeigt.

Diese Entwicklung geht mit einer Erweiterung seiner Praxis hin zur Installation und Erschaffung von Umgebungen einher. Seine Eingriffe in dreidimensionale Räume, insbesondere im Somerset House für Hauser & Wirth oder in der Fondation Cartier mit “Les Habitants”, offenbaren seinen Willen, die traditionellen Grenzen der Malerei zu überschreiten. Diese Erfahrungen bestätigen den anhaltenden Einfluss seiner Theatererfahrung: Kuitca betrachtet den Ausstellungsraum nun als Bühne, auf der der Betrachter zum Akteur seines eigenen hermeneutischen Weges wird.

Auf dem Weg zu einer Kartographie des Intimen

Kuitcas Werk findet seine Kohärenz in dieser ständigen Spannung zwischen intim und politisch, zwischen Besonderem und Universellem, zwischen Lokal und Global. Seine Karten beschreiben niemals geographische Territorien, sondern innere Landschaften, Topologien des Affekts, auf denen die Konturen unserer zeitgenössischen Existenz skizziert werden. Diese introspektive Dimension erklärt, warum seine Werke über nationale Grenzen hinaus Resonanz finden: Sie sprechen von der universellen Erfahrung der Verschiebung, die unsere Epoche kennzeichnet.

Kuitcas Stärke liegt in seiner Fähigkeit, die banalsten Werkzeuge unseres Alltags, Wohnungspläne, Straßenkarten und Theaterprogramme, in Träger existenzieller Meditation zu verwandeln. Diese Alchemie ist kein Geheimnis: Sie beruht auf einer malerischen Intelligenz, die die latente Poesie unserer vertrauten Umgebungen enthüllt. Seine Werke fungieren als Offenbarungen, die uns endlich sehen lassen, was wir jeden Tag ansehen, ohne es zu sehen.

Die Ausstellung “Kuitca 86” zeigt einen Künstler, der eine Form von kreativer Gelassenheit erreicht hat. Das gleichnamige Werk, dieses Ateliermodell, übersät mit Farbresten, funktioniert als indirektes Selbstporträt, in dem Kuitca die Natur der künstlerischen Schöpfung hinterfragt. Dieses Werk fasst vierzig Jahre Forschung zusammen: Es verbindet die theatralische Dimension seiner Anfänge, die architektonische Obsession seiner mittleren Phase und die meta-künstlerische Reflexion seiner jüngsten Werke.

Diese Reife bedeutet keine Besonnenheit. Im Gegenteil ermöglicht sie es Kuitca, die Radikalität seines Projekts voll zu übernehmen: Malerei zu einem Untersuchungsinstrument der Realität zu machen, das mit den Geisteswissenschaften in seiner Fähigkeit konkurriert, die verborgenen Strukturen unserer Existenz aufzudecken. Dieses Anliegen reiht Kuitca ein in die großen Schöpfer, die ihre Kunst zu einer Erkenntnisweise verwandelt haben.

Seine jüngste kuratorische Praxis, insbesondere seine Zusammenarbeit mit der Fondation Cartier, zeigt eine weitere Dimension seiner Arbeit: seine Fähigkeit, Verbindungen zwischen den Werken herzustellen und Netzwerke von Bedeutungen zu weben, die disziplinäre Grenzen überschreiten. Wie David Lynch, mit dem er in “Les Habitants” im Dialog steht, entwickelt Kuitca eine totale Kunst, die ihre Werkzeuge aus allen Bereichen der zeitgenössischen Schöpfung entlehnt.

Das Werk von Guillermo Kuitca stellt einen der gelungensten Versuche unserer Zeit dar, die malerische Tradition lebendig zu erhalten, ohne in Nostalgie oder Akademismus zu verfallen. Seine Fähigkeit, die Beiträge der zeitgenössischen Theorie, Psychoanalyse, Philosophie und Soziologie, zu integrieren, ohne dabei die Spezifität der Malerei zu opfern, macht ihn zu einem Vorbild für zukünftige Generationen. In einer von Bildern übersättigten Welt erinnert er daran, dass Malen ein unersetzlicher Akt des Widerstands und der Sinnstiftung bleibt.

Sein Einfluss auf die internationale Kunstszene zeugt von der Vitalität der zeitgenössischen lateinamerikanischen Kunst, aber auch von der Fähigkeit Buenos Aires’, Künstler von Weltrang hervorzubringen. Kuitca verkörpert jene Künstlergeneration, die geografische Kategorien überwunden hat, um sich als eigenständige Stimmen im globalen künstlerischen Dialog zu etablieren. Sein Werk erinnert uns daran, dass Universalität stets aus der radikalen Vertiefung der besonderen Erfahrung erwächst.

In dieser Zeit der Unsicherheiten, in der traditionelle Orientierungspunkte schwinden, bietet die Kunst von Guillermo Kuitca eine wertvolle Kompassnadel. Seine unmöglichen Karten, seine verzerrten Pläne, seine zerfallenen Theater lehren uns, in einer unleserlich gewordenen Welt zu navigieren. Mehr als ein Maler stellt sich Kuitca als Kartograph der zeitgenössischen menschlichen Bedingung dar, als Wegweiser für alle, die im Labyrinth unserer Moderne Orientierung suchen.


  1. Michel Foucault, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Gallimard, Paris, 1975.
  2. Jean-Paul Sartre, Der Idiot der Familie: Gustave Flaubert von 1821 bis 1857, Gallimard, Paris, 1971-1972.
  3. Jorge Luis Borges, Fiktionen, aus dem Spanischen von P. Verdevoye und Ibarra, Gallimard, Paris, 1957.
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Referenz(en)

Guillermo KUITCA (1961)
Vorname: Guillermo
Nachname: KUITCA
Geschlecht: Männlich
Staatsangehörigkeit(en):

  • Argentinien

Alter: 64 Jahre alt (2025)

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