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Jitish Kallat: Der Seiltänzer von Zeit und Raum

Veröffentlicht am: 3 Januar 2025

Von: Hervé Lancelin

Kategorie: Kunstkritik

Lesezeit: 5 Minuten

In seinem monumentalen Werk verwandelt Jitish Kallat Mumbai in ein schwindelerregendes Kosmos, jongliert zwischen dem unendlich Großen und dem unendlich Kleinen. Seine Installationen wollen nicht beeindrucken, sondern uns mit unserer eigenen fragmentierten Zeitlichkeit konfrontieren und das Banale in das Außergewöhnliche verwandeln.

Hört mir gut zu, ihr Snobs, als ich zum ersten Mal die Arbeit von Jitish Kallat (geboren 1974 in Mumbai) entdeckte, hätte ich mich fast an meinem Buttercroissant in einem Pariser Café verschluckt. Nicht, dass seine Kunst unverdaulich wäre, ganz im Gegenteil. Es ist nur so, dass manche Künstler die Macht haben, einem schon beim Frühstück die Gehirnzellen durchzuschütteln, einem den intellektuellen Komfort wie einen schlechten Kaffee ausspucken zu lassen. Kallat gehört zu denen.

Lassen Sie uns zunächst auf seine Art eingehen, mit der Zeit umzugehen, sie zu verbiegen wie einen alten, abgenutzten Lappen, bis sie uns ihre intimsten Geheimnisse offenbart. In seiner Serie “”Public Notice”” zögert er nicht, die Geister von Gandhi und Nehru heraufzubeschwören, nicht für eine billige Séance, sondern um uns mit unserer eigenen zeitgenössischen Heuchelei zu konfrontieren. Nehmen Sie “”Public Notice 2″” (2007): 4479 Knochen aus Fiberglas, die die Worte von Gandhis Rede über Gewaltlosigkeit bilden. Ein konzeptueller Geniestreich, der Walter Benjamin vor Freude hätte weinen lassen. Die Aura des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit? Kallat erfindet sie neu, indem er eine historische Rede in eine zeitgenössische Reliquie verwandelt. Er recycelt nicht die Geschichte, er erweckt sie zum Leben, lässt sie zwischen Vergangenheit und Gegenwart schwanken wie ein betrunkener Seiltänzer auf seinem Drahtseil.

Aber das ist noch nicht alles. Schauen Sie, wie er Mumbai, seine Heimatstadt, behandelt. Nicht wie eine exotische Postkarte für spirituell suchende Touristen, sondern wie einen lebendigen, pulsierenden, verschlingenden Organismus. In seinen Werken wird die indische Metropole zu einem kafkaesken Monster, einer Kreatur, die sich ständig zwischen hektischer Urbanität und schwindelerregendem Kosmos wandelt. Seine fotografischen Serien erfassen diese Spannung mit chirurgischer Präzision. Die von Leben wimmelnden Straßen verwandeln sich in urbane Sternbilder, jeder Straßenverkäufer wird zum Stern in seiner eigenen Galaxie des täglichen Überlebens.

Und sprechen wir von dieser Obsession mit dem Kosmischen! Kallat jongliert mit der Leichtigkeit eines quantenphysikalischen Wissenschaftlers unter Acid zwischen dem unendlich Großen und dem unendlich Kleinen. In “”Epilogue”” (2010-2011) verwandelt er 22 889 Monde in Rotis, diese indischen Fladenbrote. Ein Werk, das Hegel hätte lächeln lassen: die Dialektik des Alltäglichen und des Ewigen, serviert auf einem konzeptuellen Silbertablett. Aber Achtung, kein New Age Mystizismus hier. Kallat bleibt in der Realität verankert, selbst wenn er uns auf eine Reise zu den Sternen mitnimmt.

Die Stärke von Kallat liegt darin, dass er sich niemals mit dem einfachen Status “”zeitgenössisch”” zufriedengibt. Er gräbt tiefer, wie ein Archäologe der Gegenwart, der entdeckt, dass jeder Moment tatsächlich eine Überlagerung von tausenden anderen Momenten ist. Seine monumentalen Installationen sind nicht dazu da, Sammler im Ruhestand zu beeindrucken, sondern um uns mit unserer eigenen fragmentierten Zeitlichkeit zu konfrontieren. Das ist Jacques Derrida in dreidimensionaler Form, Dekonstruktion, die sich nicht hinter akademischem Jargon versteckt.

Und reden wir gar nicht erst von seiner technischen Meisterschaft. Wenn Kallat Video, Fotografie oder Skulptur verwendet, dann nicht, um hübsch in einem Verkaufskatalog auszusehen. Jedes Medium wird mit der Präzision eines philosophischen Scharfschützen ausgewählt. Nehmen Sie “”Wind Study”” (2017): Zeichnungen, die mit Feuer geschaffen und vom Wind modelliert wurden. Eine Performance, die die Naturgewalten zu künstlerischen Mitarbeitern macht. Selbst Yves Klein, mit seinen Anthropometrien, hat das nicht so weit getrieben.

Aber was ich an Kallat am meisten liebe, ist, dass er das Banale in das Außergewöhnliche verwandelt, ohne jemals in gratis Spektakel zu verfallen. Seine Werke sind wie zen-koans, die einem ins Gesicht explodieren, wenn man es am wenigsten erwartet. In “”Forensic Trail of the Grand Banquet”” (2009) werden einfache Lebensmittel-Röntgenaufnahmen zu galaktischen Karten. Es ist Friedrich Nietzsche, der Carl Sagan in einer Küche in Mumbai trifft.

Und während sich einige zeitgenössische Künstler verausgaben, indem sie Trends hinterherjagen wie Teenager ihrem neuesten Instagram-Crush, baut Kallat geduldig ein Werk auf, das die Moden übersteigt. Er versucht nicht, zu gefallen, er sucht nach Sinn. In einer Welt der zeitgenössischen Kunst, die oft mehr von Verkaufszahlen als von Substanz besessen ist, ist das fast revolutionär.

Seine Art, soziale und politische Fragen anzugehen, ist ebenso subtil wie beeindruckend. Keine Banner oder schrillen Parolen nötig, Kallat lässt uns lieber durch raffinierte visuelle Metaphern nachdenken. “Anger at the Speed of Fright” (2010), mit seinen mikroskopisch kleinen Figuren von Demonstranten, eingefroren in Gewalt, ist eine eindringliche Meditation über unsere Zeit permanenter Konflikte. Hannah Arendt trifft hier auf Hieronymus Bosch bei einer Straßenmanifestation.

Und fangt mich ja nicht an auf seine Serie “Chlorophyll Park” an, in der er den Asphalt der Straßen durch Weizengras ersetzt. Das ist kein einfacher ökologischer Kommentar, um den Öko-Bobos mit Urban-Greens-Lust zu gefallen. Es ist eine tiefgründige Reflexion über unser Verhältnis zur Natur, zur Urbanisierung, zum Überleben selbst. Theodor Adorno hätte vor dieser subtilen Kritik an unserer “verwalteten Welt” beide Hände applaudiert.

Faszinierend ist, dass Kallat es schafft, tief indisch zu sein, ohne jemals in billigen Exotismus zu verfallen. Er nutzt seinen kulturellen Kontext als Sprungbrett zum Universellen, nicht als Postkarte für Touristen, die nach Authentizität hungern. Seine Bezüge zu indischen philosophischen Traditionen sind nie willkürlich, sie dienen stets einem größeren, ambitionierteren Anliegen.

Oberflächliche Kritiker werden vielleicht sagen, seine Arbeit sei zu intellektuell, zu konzeptuell. Aber genau darin liegt seine Stärke: Kallat macht uns keine Geschenke, er verlangt von uns volles Engagement, aktives Nachdenken. Er serviert uns die Kunst nicht auf einem Silbertablett mit einem Plastiklöffel. Nein, er zwingt uns zu kauen, zu verdauen, seine Werke zu verstoffwechseln.

In einer Welt der zeitgenössischen Kunst, die oft vom spektakulären Nichts und konzeptuellem Leer dominiert wird, ist Kallat wie ein notwendiges Gegenmittel. Er erinnert uns daran, dass Kunst zugleich intellektuell anregend und visuell kraftvoll, politisch engagiert und poetisch subtil sein kann. Sein Werk ist ein lebender Beweis dafür, dass Komplexität kein Feind der Zugänglichkeit ist, dass Tiefe Klarheit nicht ausschließt.

Ja, manche werden weiterhin die einfache Kunst bevorzugen, die die Gewissheiten nicht zu sehr stört und die Gewohnheiten nicht allzu sehr erschüttert. Aber für jene, die in der zeitgenössischen Kunst noch den Funken suchen, der den Geist zum Schwingen bringt und Überzeugungen erschüttert, ist Kallat ein unverzichtbarer Künstler. Er gehört zu denen, die beweisen, dass zeitgenössische Kunst nicht tot ist, dass sie uns noch ansprechen, bewegen und verwandeln kann.

Kallats Werk ist wie ein komplexer Spiegel unserer Zeit. Ein Spiegel, der nicht nur reflektiert, sondern verzerrt, verwandelt und enthüllt. In diesem Spiegel sehen wir nicht nur, wer wir sind, sondern auch, was wir sein könnten. Und ist das nicht das höchste Ziel der Kunst?

Und wenn ihr nicht meiner Meinung seid, dann kehrt ruhig zurück zu euren Van-Gogh-Reproduktionen als laminiertes Poster. Ich hingegen verliere mich lieber in den urbanen Sternbildern und konzeptuellen Galaxien von Kallat. Wenigstens lerne ich dort etwas über unsere Welt, über unsere Zeit, über uns selbst.

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Referenz(en)

Jitish KALLAT (1974)
Vorname: Jitish
Nachname: KALLAT
Geschlecht: Männlich
Staatsangehörigkeit(en):

  • Indien

Alter: 51 Jahre alt (2025)

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