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Louise Giovanelli, die Zauberin der heiligen Oberflächen

Veröffentlicht am: 13 Januar 2025

Von: Hervé Lancelin

Kategorie: Kunstkritik

Lesezeit: 6 Minuten

Louise Giovanelli verwandelt Momente der Popkultur in transzendente malerische Erfahrungen. Ihre sorgfältige Technik, die von den flämischen Meistern übernommen wurde, schafft eine dauerhafte Spannung zwischen Materialität und Immaterialität, bei der jede Farbschicht eine Schwelle zu einer neuen Wahrnehmungsdimension wird.

Hört mir gut zu, ihr Snobs, während ich euch von Louise Giovanelli erzähle, geboren 1993 in London, die die Codes der zeitgenössischen Malerei mit einer Kühnheit neu definiert, die die kleine Welt der zeitgenössischen Kunst erzittern lässt. Diese britische Künstlerin, ausgebildet an der Manchester School of Art und der renommierten Städelschule in Frankfurt unter der Leitung von Amy Sillman, malt nicht einfach nur Bilder. Nein, sie erschafft eine neue Form visueller Sakralität, die die traditionellen Grenzen zwischen Popkultur und Hochkultur überwindet.

Ihre malerische Technik ist eine wahre Meisterleistung, die es verdient, näher betrachtet zu werden. Geerbt von den flämischen Meistern wie Jan van Eyck und Rogier van der Weyden, besteht sie darin, sorgfältig Schichten von sehr pigmentiertem Ölfarben zu überlagern, wodurch eine Leuchtkraft entsteht, die scheinbar aus dem Inneren der Leinwand selbst zu stammen scheint. Dieser methodische Ansatz erinnert an die Beobachtungen von Walter Benjamin über die Aura des Kunstwerks. Doch wo Benjamin im Zeitalter der mechanischen Reproduktion einen unvermeidlichen Verlust der Aura sah, gelingt Giovanelli das Unmögliche: Sie schafft eine neue Form der Sakralität aus profanen Bildern, die unserer übersättigten visuellen Kultur entnommen sind.

Ihre Serie von Gemälden “Orbiter” (2021) veranschaulicht diese Verwandlung des Profanen ins Sakrale perfekt. Indem sie ein einfaches Detail des Paillettenrocks von Mariah Carey während einer Weihnachtssendung zum Sujet nimmt, verwandelt sie einen Moment, der als trivial in der Popkultur gelten könnte, in ein transzendentes visuelles Erlebnis. Die malerische Oberfläche wird zu einem faszinierenden Schlachtfeld zwischen der Materialität der Farbe und der Immaterialität des Lichts. Dieser Ansatz spiegelt die Theorien von Roland Barthes über die Fotografie in “La Chambre Claire” wider, in der er das Konzept des punctum entwickelt. Bei Giovanelli wird jeder Pinselstrich zu einem potentiellen punctum und erzeugt eine permanente Spannung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, die den Betrachter zwingt, seinen Blick zu verlangsamen.

Die Vorhänge, ein wiederkehrendes Motiv in ihrem jüngeren Werk, verdienen besondere Beachtung. Diese monumentalen Draperien, die bis zu 3 Meter hoch sein können, sind keine bloßen dekorativen Elemente oder Stilübungen. Sie werden zu metaphysischen Toren, Schwellen zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen. Im Triptychon “Prairie” (2022) durchziehen irisierende grüne Vorhänge Schlitze aus reinem gelbem Licht, die eine spürbare dramatische Spannung erzeugen. Diese Verwendung des Vorhangs als existenzielle Metapher erinnert an die Überlegungen von Gaston Bachelard in “La Poétique de l’espace” über die Dialektik von Innen und Außen. Giovanellis Vorhang ist nicht mehr ein bloßer Gegenstand, sondern ein Übergangsraum zwischen dem Realen und dem Imaginären, zwischen dem Weltlichen und dem Transzendenten.

Doch in ihrer Verarbeitung von Kultfilmszenen offenbart Giovanelli ihre ganze subversive Kraft. Ihre Neuinterpretation von Szenen aus Brian De Palmas Film “Carrie” geht über eine einfache filmische Zitation hinaus. In “Altar” (2022) fängt sie den präzisen Moment ein, in dem das Blut auf Sissy Spacek tropft und sie in eine Art heidnische Epiphanie verwandelt. Die Oberfläche des Gemäldes vibriert mit einer fast halluzinatorischen Intensität, was Georges Didi-Huberman eine “überlebende Bild” nennen würde. Die gesättigten Neonfarben und die Unschärfeeffekte erzeugen eine unwirkliche Atmosphäre, die diese Horrorszene in einen Moment mystischer Offenbarung verwandelt.

Die Künstlerin treibt ihre Erkundung der Grenzen zwischen Sakralem und Profanem in ihrer Serie “Surface to air” (2022) noch weiter, in der langgestreckte Beine aus dem Schlitz eines glitzernden Kleides hervortreten. Diese Gemälde verweisen auf die korinthischen Säulen der klassischen Architektur und schaffen eine gewagte Parallele zwischen sakraler Architektur und zeitgenössischem Glamour. Diese unerwartete Gegenüberstellung zwingt uns, unsere Beziehung zu den Ikonen der Popkultur und ihrem quasi-religiösen Status in unserer Gesellschaft neu zu überdenken.

Giovanellis Technik ist ebenso bemerkenswert wie ihre thematischen Wahlentscheidungen. Ihre Art, die Malerei durch feine, aufeinanderfolgende Schichten zu gestalten, erzeugt eine optische Tiefe, die an die Lasur-Effekte der alten Meister erinnert. Doch sie verwendet diese traditionelle Technik, um eindeutig zeitgenössische Effekte zu schaffen. In ihren Gemälden von Weingläsern gelingt es ihr beispielsweise, Brechungs- und Verzerrungseffekte zu erzeugen, die diese Alltagsgegenstände zu Vehikeln metaphysischer Betrachtung machen. Diese zeitgenössischen Stillleben erinnern an die Vanitas des 17. Jahrhunderts und sind gleichzeitig fest in unserer Epoche verankert.

Was Giovanellis Arbeit heute besonders relevant macht, ist ihre Fähigkeit, mit verblüffender Leichtigkeit zwischen verschiedenen kulturellen Registern zu navigieren. Sie schöpft gleichermaßen aus der Kunstgeschichte wie aus der Popkultur und schafft Werke, die sich jeder einfachen Kategorisierung widersetzen. Ihr Zugang zum Sakralen ist nicht nostalgisch oder ehrfurchtsvoll, sondern eher erkundend und transformativ. Sie zeigt uns, dass das Sakrale in unserer modernen Welt nicht verschwunden ist, sondern sich lediglich in neue Territorien verlagert hat.

Die Lichtbehandlung in ihren Gemälden ist ebenfalls besonders interessant. Anstatt Licht traditionell darzustellen, erzeugt sie Lichteffekte, die scheinbar aus dem Inneren der Leinwand selbst hervorgehen. Dieser Ansatz erinnert an Maurice Merleau-Pontys Theorien über das “Fleisch des Sichtbaren”. Die von ihr erzielten Texturen sind keine bloßen Oberflächeneffekte, sondern werden zu greifbaren Manifestationen dieses “Fleisches der Welt”, von dem der Philosoph sprach.

In ihrer Arbeit besteht eine ständige Spannung zwischen Offenbarung und Verbergung, die an Martin Heideggers Begriff des “Entbergens” erinnert. Jedes Gemälde ist wie eine aletheia, eine Wahrheit, die sich offenbart und zugleich verbirgt. Diese Dialektik wird besonders deutlich in ihren Großporträts, in denen die Identität der dargestellten Person in der malerischen Materie aufgelöst wird und so eine visuelle “différance” schafft, wie sie Jacques Derrida hätte nennen können.

Ihre Art, mit Wiederholung zu arbeiten, ist ebenfalls bedeutsam. Indem sie bestimmte Motive, Vorhänge, Gläser, Gesichter wiederholt, schafft sie das, was Gilles Deleuze “Unterschiede in der Wiederholung” nennen würde. Jede Iteration eines Motivs bringt subtile Variationen mit sich, die unser Verständnis des Themas bereichern. Dieser serielle Ansatz erinnert an Claude Monets “Variationen” über die Kathedrale von Rouen, jedoch mit einer entschlossen zeitgenössischen Sensibilität.

Giovanellis Umgang mit Texturen ist besonders bemerkenswert. Ob Pailletten, Glas, Samt oder Seide, sie schafft Oberflächen, die zugleich sinnlich und konzeptionell sind. Diese Texturen werden nicht schlicht dargestellt, sondern durch den malerischen Prozess verwandelt. In ihren Gemälden kann ein einfacher Samtvorhang ebenso geheimnisvoll werden wie ein Schleier der Veronika, ebenso rätselhaft wie ein Gemälde von Rothko.

Ihre Art, ihre Motive zu rahmen, ist ebenso genial. Indem sie spezifische Details aus ihrem ursprünglichen Kontext isoliert, erzeugt sie das, was Roland Barthes als paradoxe “Effekte des Realen” bezeichnen würde. Diese Fragmente werden zu autonomen Entitäten, die ihre eigene Bedeutung generieren. Diese Strategie der Dekontextualisierung erinnert an Craig Owens’ Theorien zur postmodernen Allegorie, in der das Fragment bedeutungsvoller wird als das Ganze.

Louise Giovanelli bietet uns eine tiefgründige Reflexion über die Natur der Darstellung in unserer von Bildern gesättigten Welt. Sie verwandelt flüchtige Momente der Popkultur in dauerhafte malerische Erfahrungen und schafft so eine neue Art zeitgenössischer Ikonographie. Ihre Arbeit ist keine bloße Kritik an der Gesellschaft des Spektakels, sondern ein gewagter Versuch, aus den Trümmern unserer visuellen Kultur eine neue Form der Transzendenz zu schaffen.

Ihre Malerei erinnert uns daran, dass zeitgenössische Kunst die Tradition nicht ablehnen muss, um relevant zu sein. Im Gegenteil, im kreativen Dialog mit der Kunstgeschichte gelingt es ihr, etwas wirklich Neues zu schaffen. Sie zeigt uns, dass Malerei im 21. Jahrhundert nicht mehr nur ein einfaches Medium der Darstellung sein kann. Sie muss ein Ort der alchemistischen Verwandlung werden, wo das Banale außergewöhnlich wird, wo das Profane heilig wird. Und genau das gelingt Giovanelli: Sie verändert unseren Blick auf die Welt, Pinselstrich für Pinselstrich.

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Referenz(en)

Louise GIOVANELLI (1993)
Vorname: Louise
Nachname: GIOVANELLI
Geschlecht: Weiblich
Staatsangehörigkeit(en):

  • Vereinigtes Königreich

Alter: 32 Jahre alt (2025)

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