Hört mir gut zu, ihr Snobs: Marlene Dumas malt keine Porträts, sie enthäutet die menschliche Seele mit chirurgischer Präzision, die euch nachts wachhalten sollte. Geboren 1953 in Kapstadt, hat diese Südafrikanerin, die seit 1976 in Amsterdam lebt, ein Werk geschaffen, das systematisch darauf verzichtet, uns in unseren ästhetischen Gewissheiten zu bestärken. Dort, wo ihr Schönheit sucht, serviert sie euch die Wahrheit, und die Wahrheit, meine lieben Freunde, ist nie hübsch anzusehen.
Die Künstlerin arbeitet mit Sekundärbildern, Fotografien aus Magazinen, pornografischen Bildern oder Polaroids von Freunden, die sie einer radikalen Metamorphose unterzieht. Ihre flüssigen Pinselstriche, ihre Nass-in-Nass-Technik und ihre unwahrscheinlichen Farben erschaffen Gesichter, die unter unseren Augen zu zergehen scheinen. Diese Figuren repräsentieren keine Individuen, sondern emotionale Zustände, psychische Spannungen und enthaltene Gewalttaten. Das unterscheidet Dumas von der Vielzahl zeitgenössischer Porträtmaler: Sie sucht nicht nach Ähnlichkeit, sondern will offenbaren, was unter der polierten Oberfläche der Menschheit brodelt.
Ihre Beziehung zur Baudelaire’schen Poesie verdient es, ausführlich betrachtet zu werden, da sie den Ansatz der Künstlerin in besonders hellem Licht erhellt. Im Jahr 2021 feierte das Musée d’Orsay den zweihundertsten Geburtstag von Charles Baudelaire, indem es Dumas einlud, eine Serie zu schaffen, die vom Spleen de Paris [1] inspiriert ist. Diese posthume Zusammenarbeit zwischen zwei Geisteshaltungen, die gleichermaßen die Schönheit des Schrecklichen schätzen, war keineswegs beiläufig. Baudelaire, der Dichter, der in der Moderne eine untrennbare Mischung aus Pracht und Elend sah, findet in Dumas eine geistige Erbin, die seine Obsession für die Ambivalenz des Schönen teilt.
Die vierzehn Gemälde, die aus diesem Projekt hervorgingen, zeigen Dumas auf ihrem künstlerischen Höhepunkt, die zwischen präzise ausgeführten Porträts des Dichters und seiner Geliebten Jeanne Duval und abstrakteren Darstellungen von Motiven aus den Gedichten schwankt, die Ratte, die Flasche, das Spielzeug des Armen. Wie Baudelaire in seinen Prosagedichten die Paradoxien einer Gesellschaft beschreibt, die zwischen Fortschritt und Verfall gefangen ist, malt Dumas die Widersprüche einer Menschheit, die gleichzeitig Unschuld und Grausamkeit trägt. Die Künstlerin selbst gab die Schwierigkeit dieses Unterfangens zu, indem sie versuchte, “ein Männerporträt zu malen, das etwas von all dem in seinem Gesicht zeigt” angesichts der “widersprüchlichen Emotionen und poetischen Sprünge” des baudelairianischen Textes [2].
Diese Verwandtschaft mit dem Dichter der Fleurs du mal wurzelt in einer geteilten Vision von Kunst als Offenbarer unbequemer Wahrheiten. Wo Baudelaire “die Dummheit und Eitelkeit der müßigen Damen und der sogenannten Gentlemen” anprangerte, dekonstruiert Dumas die Machtmechanismen, die sich hinter jeder Darstellung verbergen. Ihre vom Spleen de Paris inspirierten Gemälde sind keine bloßen Illustrationen, sondern eine malerische Antwort auf die Fragen des Dichters zur modernen menschlichen Existenz. Das von ihr zweimal gemalte Gesicht Baudelaires erscheint gespenstisch, fast ausgelöscht, als ob der Dichter aus dem Jenseits weiter seinen unerbittlichen Blick auf unsere kollektiven Seelen richtet.
Die für das Musée d’Orsay geschaffene Serie erforscht besonders das Thema der Einsamkeit und der Verzweiflung, die das Werk Baudelaire’s durchzieht. In”Le Désespoir de la vieille”stellt Dumas eine Frau dar, die fast vollständig vom schwarzen Pigment ausgelöscht ist, zusammengesunken in einer Ecke, ein Bild einer so absoluten Not, dass sie fast abstrakt wird. Diese Fähigkeit, die poetische Emotion in reine visuelle Sinneswahrnehmung zu verdichten, bringt Dumas der baudelairianischen Ästhetik nahe, in der Hässlichkeit und Schönheit, das Erhabene und das Abstoßende in einer produktiven Spannung koexistieren. Der Dichter schrieb, dass die Kunst die Schönheit aus dem Übel extrahieren müsse; Dumas hingegen behauptet, dass “es keine Schönheit gibt, wenn sie nicht einen Teil des Grauens des Lebens zeigt” [3].
Diese Affinität zu Baudelaire zeigt auch die Bedeutung der Literatur im kreativen Prozess von Dumas. Ihr Werk nährt sich aus “leidenschaftlichen und fragmentarischen” Lektüren von Poesie und Literatur. Sie sucht nicht danach, Texte zu illustrieren, sondern mit ihnen einen Dialog zu etablieren, in dem Malerei und Worte sich gegenseitig bereichern. Ihre Gemälde werden somit zu Räumen, in denen die Echos anderer Stimmen, anderer Epochen widerhallen und eine Polyphonie schaffen, die einfache Betrachtung ablehnt und das intellektuelle sowie emotionale Engagement des Betrachters fordert.
Die psychoanalytische Dimension ihrer Arbeit bildet die zweite Säule ihres künstlerischen Ansatzes, und es ist kein Zufall, dass Dumas Psychologie an der Universität Amsterdam zwischen 1978 und 1980 studierte. Diese Ausbildung prägte tiefgehend ihre Herangehensweise an das Porträt, das sie weniger als physische Darstellung denn als Karte unbewusster Territorien versteht. Ihre Bilder funktionieren wie analytische Sitzungen, in denen das Verdrängte an die Oberfläche kommt, in denen soziale Masken bröckeln, um das zu offenbaren, was wir lieber verborgen halten würden.
Dumas interessiert sich besonders für die dunklen Bereiche der menschlichen Psyche: Sexualität in ihren rohesten Manifestationen, latente Gewalt, die in jedem schlummert, die Schuld, die aus unterdrückenden sozialen Strukturen erblich ist. Ihre Kindheit unter der Apartheid in Südafrika nährte eine ständige Reflexion über die psychologischen Mechanismen von Herrschaft und Ausgrenzung. Werke wie”Evil is Banal”(1984), in denen sie sich mit einem schwarzen Gesicht und einer schwarzen Hand darstellt, hinterfragen ihre eigene Komplizenschaft als weiße Frau in einem rassistischen System. Diese Fähigkeit, das analytische Skalpell gegen sich selbst zu richten, zeugt von einer seltenen intellektuellen Ehrlichkeit.
Die Frage der sexuellen Identität und der Darstellung von Begehren durchzieht ihr Werk ebenfalls mit besonderer Intensität. Dumas malt Akte, die nichts Konventionelles am Erotismus haben; es sind Körper, die in ihrer Verletzlichkeit, ihrer Fremdheit und ihrem Bedrohungspotential ausgestellt werden. Sie arbeitet oft mit pornografischem Material, das sie umfunktioniert, um Bilder zu schaffen, die zwischen Offenbarung und Verbergung, zwischen Ausstellung und Scham schwanken. Diese Ambivalenz spiegelt die in der menschlichen Sexualität innewohnenden Spannungen wider, diese Mischung aus Trieb und Zensur, die Freud ins Zentrum des Unbewussten stellte.
Ihre Kinderporträts, insbesondere die ihrer eigenen Tochter Helena, beunruhigen durch ihre Ablehnung von Sentimentalität. Die Babys, die sie malt, erscheinen oft grünlich, fast monströs, wie in”Die Baba”(1985), wo das Kind mit Hitler-ähnlichen Zügen die unerträgliche Frage stellt: An welchem Punkt kippt die Unschuld in Grausamkeit um? Diese Bilder stellen unser Bedürfnis in Frage, Kindheit als einen Zustand der Gnade zu sehen, und zwingen uns anzuerkennen, dass Gewalt und Zerstörung auch schon in jungen Jahren Komponenten der menschlichen Existenz sind.
Dumas’ Verhältnis zu den fotografischen Bildern, die sie als primäres Material verwendet, offenbart ebenfalls ein scharfes Verständnis der psychischen Mechanismen von Projektion und Identifikation. Sie kopiert ihre Quellen niemals sklavisch, sondern unterzieht sie einem Prozess der Distanzierung, der es dem Unbewussten der Künstlerin ermöglicht, die Darstellung zu durchdringen. Diese Methode spiegelt die Theorien über die Fantasiewand wider, jene Oberfläche, auf der unsere Wünsche und Ängste projiziert werden. Die Gesichter, die sie malt, werden so zu verzerrten Spiegeln, in denen wir etwas von uns selbst erkennen, selbst, und besonders, wenn uns das Bild anwidert.
Die Serie Models (1994) oder das Porträt von Naomi Campbell (1995) hinterfragen die Mechanismen der Identitätsbildung durch den Blick des Anderen. Indem Dumas diese Schönheitsikonen malt, feiert sie nicht deren Glamour, sondern enthüllt die symbolische Gewalt, die sie als Objekte des männlichen Begehrens konstituiert. Ihre flüssigen Pinselstriche lassen die Gesichter förmlich verlaufen, als ob die Identität selbst nur eine prekäre Konstruktion wäre, stets von Auflösung bedroht. Diese grundlegende Instabilität des Selbstbildes resoniert tief mit den psychoanalytischen Konzeptionen des Subjekts als grundlegend geteilt, fragmentiert und ständig im Wiederaufbau befindlich.
Ihre Porträts von kontroversen politischen Figuren, wie das von Osama bin Laden (2010), treiben diese Untersuchung der Schattenzonen der kollektiven Psyche noch weiter voran. Indem Dumas den Terroristen vermenschlicht, verherrlicht sie nicht die Gewalt, sondern konfrontiert uns mit einer verstörenden Wahrheit: Das Monster ähnelt uns. Diese Fähigkeit, die Einfachheit des Manichäismus abzulehnen, die gemeinsame Menschlichkeit zu erforschen, die selbst in den abstoßendsten Figuren besteht, zeugt von einer analytischen Tiefe, die weit über das einfache malerische Werk hinausgeht.
Die Frage des Blicks und der Anerkennung, zentral in den psychoanalytischen Theorien zur Subjektbildung, durchzieht das gesamte Werk von Dumas. Ihre Figuren fixieren uns oft mit einer beunruhigenden Intensität und verwandeln uns in mitschuldige Voyeur*innen. Dieses Spiel des Sehens und Gesehenwerdens, diese Dialektik des Blicks, die das Subjekt konstituiert und zugleich bedroht, strukturiert die Beziehung, die Dumas zwischen Werk und Betrachter*in herstellt. Wir können ihre Gemälde nicht passiv betrachten; sie beziehen uns ein, beschuldigen uns, zwingen uns, unsere eigene Verstrickung in die von ihr dargestellten Macht- und Begehrensstrukturen anzuerkennen.
Dumas’ Arbeit an der Darstellung von Körpern, sei es Akt, Porträt oder erotische Szenen, lehnt systematisch die Idealisierung ab. Ihre Figuren tragen die Stigmata ihrer psychischen Geschichte: Verzweiflung zeigt sich in der Verzerrung der Züge, Gewalt in der Verdickung der malerischen Substanz, Verlangen in der Flüssigkeit der Farben, die über die Konturen hinausbluten. Diese Materialität der Malerei wird zum Träger einer Erforschung der Materialität des Körpers und des ihn bewohnenden Unbewussten.
Ihre Nass-in-Nass-Technik, bei der sich die Farben vermischen und gegenseitig kontaminieren, funktioniert als Metapher für psychische Prozesse selbst. Nichts ist fix, alles fließt, verwandelt sich, entzieht sich der Kontrolle. Diese Flüssigkeit des Bildes spiegelt die Flüssigkeit des Unbewussten wider, wie sie die Psychoanalyse verstand: einen kontinuierlichen Fluss von Assoziationen, Verdichtungen und Verschiebungen, der jedem Versuch einer endgültigen Fixierung trotzt.
Der Einfluss, den sie von Künstlern wie Edvard Munch oder Francis Bacon anerkennt, ist nicht zufällig. Diese Maler teilten mit ihr eine Besessenheit für die visuellen Manifestationen psychischer Not, für jene Momente, in denen das Innenleben sich im Äußeren widerspiegelt und das Sichtbare verzerrt. Doch wo Bacon seine Figuren in architektonische Käfige einsperrte und Munch sie in expressionistische Landschaften tauchte, zieht es Dumas vor, sie vor neutralen Hintergründen zu isolieren und die gesamte emotionale Intensität auf die Behandlung von Gesicht und Körper selbst zu konzentrieren.
Was in ihrem Gesamtwerk besonders auffällt, ist die absolute Ablehnung von Trost. Dumas bietet uns keinen Komfort, keine Flucht vor den Wahrheiten, die sie ans Licht bringt. Ihre Gemälde funktionieren wie Symptome im psychoanalytischen Sinne des Wortes: Sie offenbaren das, was verborgen bleiben muss, sie lassen das Verdrängte in verkleideter, aber erkennbarer Form wiederkehren. Diese symptomatische Dimension ihrer Kunst erklärt vielleicht das Unbehagen, das sie oft hervorruft; wir sind mit Aspekten von uns selbst und unserer Gesellschaft konfrontiert, die wir lieber ignorieren würden.
Während wir zum Ende dieser Betrachtung kommen, zeigt sich, dass das Werk von Marlene Dumas jeder bequemen Klassifikation trotzt. Sie ist weder einfach Porträtmalerin, noch Expressionistin, noch Neo-Romantikerin; sie ist all das zugleich und doch keines davon vollständig. Ihre Kunst funktioniert wie ein zerbrochener Spiegel, der uns Fragmente der Wahrheit zurückwirft, die unmöglich zu einem harmonischen Ganzen zusammengesetzt werden können. Gerade diese Fragmentierung ist vielleicht ihr wertvollster Beitrag: In einer Zeit, die von geglätteten Bildern und vorgefertigten Darstellungen übersättigt ist, erinnert uns Dumas daran, dass der Mensch grundlegend unwiederholbar, unreduzierbar und ungreifbar ist.
Ihre Fähigkeit, das Erbe der großen europäischen Poesie und die Intuitionen der psychoanalytischen Gedanken über die Tiefen der menschlichen Psyche in einem einzigen Ansatz zu vereinen, macht sie weit mehr als nur eine zeitgenössische Künstlerin. Sie tritt als Archäologin der Seele auf, als Kartografin jener inneren Territorien, die wir nicht zu betreten wagen. Ihre Gemälde schmücken nicht die Wände, sie durchdringen sie und schaffen atemberaubende Öffnungen zu Abgründen, die wir lieber nicht betrachten möchten.
Die Ehre, die ihr das Musée d’Orsay im Jahr 2021 zuteilwerden ließ, als man sie als erste lebende Künstlerin in der Galerie der Impressionisten ausstellte, erkennt implizit diese außergewöhnliche Stellung an. Doch jenseits institutioneller Anerkennungen liegt der wahre Wert ihrer Werke im Unbehagen, das sie hervorrufen. Denn Kunst, die uns einfach gefällt, ist nur Unterhaltung; jene, die uns tief verstört, ist die einzige, der man längere Aufmerksamkeit schenken sollte. Marlene Dumas schafft nicht, um zu gefallen, sie schafft, um zu wecken, zu stören, zum Nachdenken und Fühlen zu zwingen, was wir zu vermeiden wünschen.
In einer Zeit, in der Bilder bis zur Bedeutungslosigkeit proliferieren, in der alles mit der Geschwindigkeit der Internetverbindung konsumiert und vergessen wird, erinnert uns Dumas’ Werk daran, dass bestimmte Bilder widerstehen, bestehen bleiben und uns heimsuchen. Ihre Porträts gehören zu denen, die man nicht vergessen kann, gerade weil sie uns nicht in Ruhe lassen. Sie wirken lange nach, nachdem wir sie verlassen haben, wie Splitter, die im Bewusstsein stecken, wie unbeantwortete Fragen, die uns im Schlaf verfolgen.
Das ist letztlich das Kennzeichen großer Kunst: nicht, dass sie uns im Moment erstaunt, das kann jede gut inszenierte Aufführung, sondern dass sie in uns weiter wirkt, dass sie unseren Blick auf die Welt und auf uns selbst verändert. Marlene Dumas malt Gesichter, gewiss, aber dabei gestaltet sie unsere neu. Sie zwingt uns, uns so zu sehen, wie wir uns nicht sehen wollten, und gerade deshalb wird ihr Werk bleiben, wenn so viele andere in Vergessenheit geraten sind. Die Schönheit, sagte sie, existiert nicht ohne die Schrecken des Lebens zu zeigen. Und wir, unfreiwillige Zuschauer unserer eigenen Auflösung, können ihren Gemälden, die uns diesen unerbittlichen Spiegel vorhalten, nur zustimmen: Ja, ihr habt wirklich uns gemalt, in all unserer elenden Pracht.
- Ausstellung “Marlene Dumas: Le Spleen de Paris”, Musée d’Orsay, Paris, 12. Oktober 2021 – 30. Januar 2022, Projekt in Zusammenarbeit mit Donatien Grau konzipiert
- Interview mit Marlene Dumas, Artnet News, November 2021
- Marlene Dumas, Sweet Nothings: Notes and Texts, 1982-2014, D.A.P., 2014
















