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Olga de Amaral: Die Metamorphosen des Textils

Veröffentlicht am: 24 Februar 2025

Von: Hervé Lancelin

Kategorie: Ausstellung

Lesezeit: 8 Minuten

In den Sälen der Fondation Cartier transzendieren die Kreationen von Olga de Amaral die Materie. Ihre goldenen Fäden und textile Oberflächen schaffen Räume der Kontemplation, in denen Licht greifbar wird. Die kolumbianische Künstlerin verwandelt das Weben in eine universelle Sprache, die mit Architektur und Landschaft in Dialog tritt.

Hört mir gut zu, ihr Snobs. Im kristallinen Gebäude der Fondation Cartier verwandelt ein Regen aus Gold und Licht den Raum. Die hängenden Fäden von Olga de Amaral, einer 1932 geborenen kolumbianischen Künstlerin, zeichnen luftige Geometrien, die scheinbar der Schwerkraft trotzen. Diese erste große europäische Retrospektive, die fast achtzig zwischen den 1960er Jahren und heute geschaffene Werke vereint, lädt uns ein, das monumentale Werk einer Künstlerin zu erkunden, die seit mehr als sechs Jahrzehnten die Grenzen der Textilkunst erweitert, indem sie Räume der Meditation und Transzendenz schafft.

Diese revolutionäre Ausstellung markiert einen Wendepunkt in der Anerkennung einer Künstlerin, die ständig die Grenzen ihres Mediums überschritten hat. Durch ihre Werke, die zwischen Teppichkunst, Skulptur und Installation oszillieren, stellt Olga de Amaral einen faszinierenden Dialog mit dem Existentialismus von Jean-Paul Sartre her, insbesondere in seiner Auffassung von kreativer Freiheit. Ihr Werk verkörpert diese unaufhörliche Suche nach der Überwindung materieller Zwänge, um eine Form künstlerischer Transzendenz zu erreichen.

Die monumentalen Installationen Amarals, insbesondere die Serie “Brumas” (2013), schaffen immersive Umgebungen, die unsere Wahrnehmung des Raumes radikal verändern. Diese Werke, bestehend aus hängenden, in leuchtenden Farben gefärbten Fäden, beschränken sich nicht darauf, Raum zu füllen; sie verwandeln ihn in einen Ort der Kontemplation und sinnlichen Erfahrung. Der Betrachter, konfrontiert mit diesen Werken, taucht ein in ein Universum, in dem Materie Licht wird und Raum Poesie.

Diese transformative Dimension zeigt sich besonders in der Art und Weise, wie die Künstlerin mit dem Material umgeht. Die goldenen Oberflächen ihrer “Alquimias” transzendieren ihre ursprüngliche Materialität, um reflektierende Flächen zu werden, die das Licht modulieren. Gold, traditionell ein Symbol für Macht und Reichtum, wird unter ihren Händen zu einem Medium spiritueller Transformation und schafft Werke, die von einer fast mystischen Präsenz strahlen.

Der meisterhafte Einsatz von Gold durch Amaral geht weit über historische oder kulturelle Bezüge hinaus. In ihren “Estelas”, begonnen 1996, werden die goldenen Oberflächen zu konkreten Manifestationen einer Suche nach Transzendenz und verwandeln das edle Metall in ein Vehikel für eine spirituelle Erfahrung, die die bloße Materialität übersteigt.

Ihre anfängliche Ausbildung in Architektur in Bogotá spiegelt sich in ihrem tiefen Verständnis von Raum als Ausdrucksmedium wider. Ihre monumentalen Werke, wie die “Muros Tejidos”, definieren unser Verhältnis zum architektonischen Raum neu. Der Betrachter steht nicht einfach vor einem Kunstwerk, sondern ist in eine totale Umgebung eintaucht, die alle Sinne anspricht. Die Serien “Bosques” und “Brumas” veranschaulichen diese räumliche Beherrschung perfekt. Die hängenden Fäden erzeugen transparente Volumen, die sich je nach Position des Betrachters verändern und eine dynamische Raumerfahrung ermöglichen. Diese Installationen stellen nicht einfach Raum dar; sie verwandeln ihn in ein Feld wahrnehmungsorientierter Erkundung, in dem jede Bewegung neue visuelle Konfigurationen offenbart.

Die künstlerische Praxis von Amaral dreht sich um eine kontinuierliche Erforschung der expressiven Möglichkeiten von Fasern. Ihre Arbeit mit Leinen, Baumwolle, Pferdehaar und anderen traditionellen Materialien zeigt ein tiefes Verständnis für die intrinsischen Eigenschaften jedes Materials. Sie begnügt sich nicht nur mit deren Verwendung, sondern treibt sie bis an ihre Grenzen, um unerforschte Potenziale zu offenbaren.

Die Künstlerin entwickelt einen einzigartigen Ansatz des Webens, der traditionelle Techniken transzendiert. Sie flechtet, knotet, verwebt die Fäden und schafft komplexe Flächen, die die Möglichkeiten des textilen Mediums neu definieren. Diese Flächen sind keine einfachen Faserkonstruktionen, sondern anspruchsvolle Erkundungen der expressiven Möglichkeiten des Materials.

Die Beziehung von Amaral zur Farbe zeigt eine außergewöhnliche Sensibilität. Wie sie selbst sagt: “Ich lebe die Farbe. Ich weiß, dass es eine unbewusste Sprache ist, und ich verstehe sie.” Dieser intuitive und tiefgehende Zugang zur Farbe verwandelt ihre Werke in wahre chromatische Symphonien, in denen jeder Farbton zur Gestaltung einer einzigartigen Atmosphäre beiträgt.

Der Einfluss des Bauhauses, den sie während ihres Studiums an der Cranbrook Akademie erwarb, zeigt sich in ihrem systematischen Umgang mit Form und Farbe. Dennoch transzendiert Amaral die modernistischen Prinzipien, indem sie sie mit kolumbianischen volkstümlichen Traditionen und präkolumbianischer Kunst verbindet. Diese einzigartige Synthese schafft eine persönliche künstlerische Sprache, die aus verschiedenen Quellen schöpft und dennoch tief originell bleibt.

Die kolumbianischen Landschaften, insbesondere die Hochplateaus der Anden und die tropischen Täler, prägen ihre Arbeit nachhaltig. Ihre Werke sind keine wörtlichen Darstellungen dieser Landschaften, sondern poetische Verwandlungen, die deren Essenz einfangen. Die Texturen, Farben und Formen ihrer Kreationen entstehen aus einem tiefen Dialog mit der natürlichen Umgebung.

Die Serie “Brumas”, die spektakulär in der Ausstellung präsentiert wird, veranschaulicht perfekt diesen transformativen Ansatz. Die geometrischen Muster, die direkt auf die Baumwollfäden gemalt sind, schaffen durchscheinende Volumen, die über die bloße Darstellung hinausgehen. Diese Installationen werden zu abstrakten Landschaften aus Licht und Farbe, die den Betrachter zu einer einzigartigen kontemplativen Erfahrung einladen.

Die Ausstellung beleuchtet auch die technische Entwicklung der Künstlerin. Ihre Übernahme von Blattgold in den 1970er Jahren, inspiriert durch ihre Begegnung mit der Keramikerin Lucie Rie und der japanischen Kintsugi-Technik, markiert einen entscheidenden Wendepunkt in ihrer Praxis. Das Gold wird nicht nur zu einem Material, sondern zu einem zentralen Element ihres künstlerischen Vokabulars, das Licht in Materie und Materie in Licht verwandeln kann.

Die “Estelas”, die in der Ausstellung präsentiert werden, demonstrieren Amarals Meisterschaft in der Schaffung von Objekten, die ihre Materialität transzendieren. Diese goldenen Stelen, bestehend aus einer gewebten Baumwollstruktur, die mit Gesso und anschließend mit Blattgold überzogen ist, erzeugen Oberflächen, die das Licht auf komplexe Weise modulieren und visuelle Effekte erzeugen, die sich je nach Blickwinkel und Beleuchtung ständig verändern.

Die Ausstellung in der Fondation Cartier, entworfen von der Architektin Lina Ghotmeh, schafft einen faszinierenden Dialog zwischen Amarals Werken und der Architektur von Jean Nouvel. Die Transparenz des Gebäudes wird zu einem aktiven Element in der Erfahrung der Werke und schafft ein subtil spielendes Wechselspiel zwischen Innen und Außen, zwischen Natur und Kultur.

Im Erdgeschoss treten Amarals monumentale Werke in einen Dialog mit dem umgebenden Garten und schaffen eine Kontinuität zwischen dem Ausstellungsraum und der urbanen Landschaft. Diese Inszenierung unterstreicht die Fähigkeit der Werke, ihre Umgebung zu verwandeln und innerhalb des städtischen Trubels Räume der Kontemplation zu schaffen.

Die untere Ebene der Ausstellung bietet eine intimere Erfahrung, organisiert nach einer Spirale, die von den wiederkehrenden Motiven in Amarals Werk inspiriert ist. Die dramatische Beleuchtung und die dunklen Wände schaffen ein Umfeld, das zur Kontemplation einlädt und es den Werken ermöglicht, ihre spirituelle Dimension voll zu offenbaren.

In ihrem Streben nach künstlerischer Transzendenz, wie Sartre es vielleicht formuliert hätte, verwandelt Amaral jede materielle Einschränkung in eine Möglichkeit des Ausdrucks, jede technische Begrenzung in eine Chance zur Überwindung. Ihr Werk verkörpert diese schöpferische Spannung zwischen der Materialität des Mediums und dem Streben nach Transzendenz.

Diese Retrospektive ermöglicht ebenfalls das Verständnis darüber, wie Amaral dazu beigetragen hat, unsere Wahrnehmung von textiler Kunst zu verändern. Indem sie die Faser von den traditionellen Zwängen der Wandteppichkunst befreite, hat sie eine neue künstlerische Sprache geschaffen, die konventionelle Kategorien transzendiert. Ihre Werke sind weder Malerei, noch Skulptur, noch Architektur, sondern eine einzigartige Synthese, die neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet.

Die Ausstellung hebt Amarals Beitrag zur künstlerischen Avantgarde der 1960er, 1970er und 1980er Jahre hervor. Ihr Werk, zusammen mit dem von Künstlerinnen wie Sheila Hicks und Magdalena Abakanowicz, spielte eine bedeutende Rolle bei der Emanzipation der textilen Kunst, die lange Zeit marginalisiert wurde, da sie als dekorative Kunst betrachtet wurde, die hauptsächlich von Frauen ausgeübt wird.

Amarals ursprüngliche Ausbildung in Architektur ist nicht nur eine formale Einflussnahme; sie stellt einen grundlegenden Ansatz des Raumes als Möglichkeitsfeld dar. Ihre monumentalen Werke, insbesondere die “Muros Tejidos”, verwandeln den architektonischen Raum, indem sie immersive Umgebungen schaffen, die alle Sinne ansprechen. Diese gewebten Wände veranschaulichen perfekt die Verschmelzung von Architektur und Textil. Diese massiven Werke, hergestellt aus Wolle und Pferdehaar, sind nicht einfach Wandteppiche; sie werden zu eigenständigen architektonischen Elementen, die die Räume, die sie besetzen, transformieren. Ihre monumentale Größe und ihre imposante physische Präsenz schaffen einzigartige räumliche Erfahrungen, die unsere Wahrnehmung der Umwelt neu definieren.

Amarals innovative Materialverwendung spiegelt ebenfalls diese architektonische Dimension wider. Ihre Arbeit mit Pferdehaar ermöglicht es ihr, starre Strukturen zu schaffen, die die traditionellen Erwartungen an Textilien herausfordern. Diese Materialien, traditionell mit Handwerk assoziiert, werden in konstruktive Elemente verwandelt, die zur Schaffung von Räumen beitragen.

Die Serie “Hojarascas” (Tote Blätter) aus den 1970er Jahren zeigt, wie Amaral die Struktur des Webens selbst nutzt, um architektonische Formen zu schaffen. Die gewebten Streifen, zu komplexen Volumen zusammengesetzt, schaffen Innen- und Außenräume, die an die grundlegenden Prinzipien der Architektur erinnern und das Textil in ein Medium des räumlichen Bauens verwandeln.

Ihre architektonische Ausbildung zeigt sich auch in ihrem ausgefeilten Verständnis von Maßstab und Proportionen. Die “Gran Muro” (Große Mauer), insbesondere die 1976 in der Lobby des Westin Peachtree Plaza in Atlanta installierte, demonstriert ihre Fähigkeit, in einem wirklich architektonischen Maßstab zu arbeiten. Dieses sechsstöckige Werk stellt eine vollständige Transformation des architektonischen Raums durch künstlerische Intervention dar.

Amarals jüngere Werke, insbesondere die “Brumas”, zeigen eine Weiterentwicklung dieses architektonischen Ansatzes. Diese Installationen schaffen ätherischere, weniger definierte Räume, die mit der Wahrnehmung von Solidität und Transparenz spielen. Sie stellen einen neuen Schritt in ihrer räumlichen Erforschung dar, indem sie Umgebungen schaffen, die die physischen Grenzen ihrer Materialien überschreiten.

Mit 92 Jahren überschreitet Olga de Amaral weiterhin die Grenzen ihrer Kunst. Ihre jüngsten Kreationen zeigen eine unvergleichliche technische Meisterschaft und eine konstante Fähigkeit, ihre künstlerische Sprache zu erneuern. Ihr Werk erinnert uns daran, dass wahre Kunst oft aus der Fähigkeit entsteht, die Grenzen ihres Mediums zu überschreiten, um neue Ausdrucksformen zu schaffen.

Diese Retrospektive in der Fondation Cartier bietet uns eine einzigartige Gelegenheit, das Ausmaß und die Tiefe von Olga de Amarals Werk zu entdecken. Durch ihre Kreationen, die die traditionellen Kategorien der Kunst überschreiten, lädt sie uns zu einer Erfahrung ein, die unser ganzes Wesen einbezieht. Ihre Arbeit veranschaulicht perfekt die Fähigkeit der Kunst, unsere Wahrnehmung der Welt zu verändern. Olga de Amarals Werk erinnert an die Kraft eines authentischen künstlerischen Engagements. Ihre Kreationen, die Materie in spirituellen Ausdruck und Raum in eine Erfahrung der Transzendenz verwandeln, laden uns ein, unsere eigene Fähigkeit zur Ehrfurcht vor der Schönheit der Welt neu zu entdecken.

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Referenz(en)

Olga DE AMARAL (1932)
Vorname: Olga
Nachname: DE AMARAL
Geschlecht: Weiblich
Staatsangehörigkeit(en):

  • Kolumbien

Alter: 93 Jahre alt (2025)

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