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Stephan Balkenhol: Skulpturen der Anonymität

Veröffentlicht am: 20 Juni 2025

Von: Hervé Lancelin

Kategorie: Kunstkritik

Lesezeit: 8 Minuten

Stephan Balkenhol schnitzt menschliche Figuren aus Holz mit erschreckender Banalität: Angestellte in weißen Hemden, Frauen im zurückhaltenden Kostüm. Diese sozialen Archetypen enthüllen die verborgene Schönheit der gewöhnlichen Menschheit. Jede Skulptur wird zum Spiegel, in dem sich unsere Rolle als anonyme Arbeitnehmer in zeitgenössischen westlichen Gesellschaften reflektiert.

Hört mir gut zu, ihr Snobs. Seit mehr als vierzig Jahren schnitzt Stephan Balkenhol Gestalten aus Pappel- und Fichtholz, die durch eine frappierende Banalität bestechen, und wir haben immer noch nicht das Ausmaß dessen verstanden, was er vollbringt. Während die zeitgenössische Kunst sich bemüht zu schockieren, bis zur Erschöpfung zu konzeptualisieren oder auf technologischen Wellen zu surfen, beharrt dieser 1957 in Fritzlar geborene deutsche Bildhauer auf einem Vorgehen von verblüffender Einfachheit: das Außergewöhnliche im gewöhnlichen Menschen zu enthüllen.

Ausgebildet an der Hochschule für bildende Künste Hamburg zwischen 1976 und 1982 unter der Leitung von Ulrich Rückriem, mit Nam June Paik und Sigmar Polke als Professoren, hätte Balkenhol den ausgetretenen Pfaden des Minimalismus oder der Konzeptkunst folgen können, die damals dominierten. Doch bereits Mitte der 1980er Jahre trifft er die radikale Entscheidung für die Figuration, gegen den Strom der Zeit. Diese grundlegende Entscheidung prägte sein gesamtes Werk: Skulpturen von Männern und Frauen, schlicht gekleidet, stehend auf ihren Sockeln aus rohem Holz, mit verlorenem Blick in ein undefinierbares Jenseits.

Balkenhols Ansatz gründet tief in der mentalen Architektur der zeitgenössischen Soziologie. Seine Figuren verkörpern, was Pierre Bourdieu als Habitus der Mittelschicht bezeichnet: jene dauerhafte Disposition, die unsere Wahrnehmungen und sozialen Praktiken strukturiert [1]. Balkenhols Figuren tragen die unsichtbare Uniform des modernen europäischen Bürgertums: weiße Hemden mit offenem Kragen, dunkle Hosen bei den Männern, dezente Kleider oder Kostüme bei den Frauen. Diese Kleidungsästhetik ist für den Künstler niemals nebensächlich; sie bildet den codierten Ausdruck sozialer Zugehörigkeit. Anders als die marmornen Helden der Antike oder die farbenprächtigen Heiligen des Mittelalters beanspruchen Balkenhols Figuren keine Außergewöhnlichkeit. Sie sind die anonymen Vertreter jener sozialen Schicht, die das Rückgrat der entwickelten westlichen Gesellschaften bildet.

Diese selbstverständliche Normalität offenbart eine besonders subtile künstlerische Strategie. Indem er jegliches Pittoreske und jede expressive Eigenart ablehnt, erschafft Balkenhol soziologische Archetypen von bemerkenswerter Kraft. Seine Figuren erinnern an das, was Georg Simmel als “Individualität ohne Individualismus” beschrieb: soziale Wesen, die perfekt in die Codes ihrer Zeit integriert sind, jedoch ohne jene Selbstbehauptung, die den modernen Individualismus kennzeichnet [2]. Jede Skulptur wird so zum Spiegelbild eines sozialen Typs: der Büroangestellte, die mittlere Führungskraft, der qualifizierte Techniker. Diese Darstellungen geraten niemals zur Karikatur, da sie aus einer feinen soziologischen Beobachtung hervorgehen und nicht aus einer moralischen Bewertung.

Die Technik Balkenhols verstärkt diese soziologische Dimension. Seine Figuren bewahren Spuren des Werkzeugs, die Splitter und Späne, die den Schaffensprozess belegen. Diese bewusst gelassene Rauheit steht im Kontrast zur sozialen Glättung, der seine Modelle im Alltag ausgesetzt sind. Indem die Arbeit mit Stechbeitel und Meißel sichtbar bleibt, verleiht der Künstler den Figuren eine materielle Authentizität, während sie im echten Leben in sterilen Umgebungen agieren: klimatisierte Büros, Einkaufszentren, standardisierte Transportbereiche. Die rohe Materialität des Holzes erinnert daran, dass hinter der scheinbaren sozialen Uniformität eine ursprüngliche, raue und lebendige Menschlichkeit steckt.

Dieser soziologische Ansatz findet seine Fortsetzung in der gotischen Architektur, einem Bereich, aus dem Balkenhol einen wesentlichen Teil seiner schöpferischen Inspiration bezieht. Wie die anonymen Bildhauer der mittelalterlichen Kathedralen praktiziert er eine Kunst des expressiven Verzichts im Dienst einer spirituellen Wahrheit. Die Figuren romanischer und gotischer Portale zeigen dieselbe Maßhaltung, dieselbe Fähigkeit, das menschliche Wesen jenseits individueller Zufälligkeiten zu erfassen. Bei Balkenhol wie bei den Glasmalern von Chartres oder der Sainte-Chapelle zielt die Kunst nicht auf technischen Glanz, sondern auf die Offenbarung einer Präsenz.

Die gotische Architektur lehrt auch die Kunst der bedeutungsvollen Vertikalität. Balkenhols Figuren, die auf ihren Sockeln aus rohem Holz stehen, nehmen an dieser symbolischen Erhebung teil. Sie thronen nicht wie Herrscher, sondern erheben sich diskret über den gemeinen Boden, ähnlich den steinernen Heiligen, die die Fassaden der Kathedralen schmücken. Diese maßvolle Erhebung verleiht ihnen eine besondere Würde: Sie werden zu den stillen Zeugen unserer Zeit, zu unbeteiligten Beobachtern der zeitgenössischen sozialen Komödie.

Balkenhols zurückhaltende Polychromie erinnert auch an die malerischen Techniken der gotischen Altäre. Wie die flämischen Primitive verwendet er reine Farben in flächigen Aufträgen: Weiß für die Hemden, Schwarz für die Hosen, Ocker für die Haare. Diese reduzierte Palette erzeugt ein chromatisches System von beeindruckender Wirksamkeit. Jede Farbe wird bedeutungstragend: das Weiß des Hemdes verweist auf soziale Reinheit, das Schwarz der Hose auf bürgerliche Strenge, die Hauttöne auf die gemeinsame Menschlichkeit. Diese Farbwirtschaft entspricht der der gotischen Meister, die das göttliche Licht aus einigen wenigen wesentlichen Pigmenten strahlen lassen konnten.

Die gotische Architektur offenbart eine weitere Dimension von Balkenhols Werk: die Spannung zwischen dem Individuellen und dem Universellen. Wie die Figuren der romanischen Tympana entziehen sich seine Figuren der individualisierenden Porträtierung, um zur typologischen Darstellung zu gelangen. Sie verkörpern soziale Funktionen statt einzelne Personen. Diese Abstraktion des Individuellen ermöglicht paradoxerweise eine breitere Identifikation: Jeder Betrachter kann seine eigenen Erfahrungen der modernen Lohnarbeitsbedingung auf diese anonymen Figuren projizieren.

Die Platzierung der Skulpturen im musealen oder urbanen Raum erinnert ebenfalls an die gotische Baukunst in ihrer gemeinschaftlichen Dimension. Balkenhol gestaltet seine Ausstellungen oft als architektonisch strukturierte Ensembles, in denen die Figuren im Raum miteinander in Dialog treten. Diese Szenografie erinnert an die Organisation der Eingangsportale von Kathedralen, bei der jede Statue ihren Platz in einem kohärenten symbolischen Ganzen findet. Ob es sich um seine Installationen in Museen oder um seine monumentalen öffentlichen Skulpturen wie “Big Man with Little Man” auf dem Pariser Platz in Berlin handelt, Balkenhol denkt seine Werke stets in Beziehung zu ihrer architektonischen und sozialen Umgebung.

Die Beständigkeit seiner künstlerischen Herangehensweise zeugt von einer seltenen Treue zu einem anfänglichen ästhetischen Projekt. Seit vierzig Jahren entwickelt Balkenhol unermüdlich dieselben Motive: den Mann im weißen Hemd und dunkler Hose, die Frau im einfachen Kleid, manchmal ergänzt durch Tiere oder hybride Kreaturen, die diesem geordneten Alltag eine Note unheimlicher Fremdheit verleihen. Diese Konstanz erinnert an die Geduld gotischer Baumeister, die Generationen lang an demselben Bauwerk arbeiteten. Wie sie errichtet Balkenhol eine weltliche Kathedrale, die der Feier der gewöhnlichen Menschheit gewidmet ist.

Seine Ausstellungen im Museum Wiesbaden im letzten Jahr und in der Kunsthal Rotterdam in diesem Jahr bestätigen die Reife dieses Vorgehens. Die derzeit laufende Ausstellung “Something is Happening” in der Kunsthal Rotterdam, bis zum 14. September 2025 sichtbar, zeigt eine Auswahl von mehr als 35 Werken, die Balkenhols unverwechselbare Welt zum Leben erwecken. Diese Figuren hinterfragen weiterhin unser Verhältnis zur sozialen Normalität, zur anonymen Stadt, zur Standardisierung des Verhaltens. Sie fungieren als anthropologische Offenbarer: Indem sie uns mit unserem eigenen sozialen Bild konfrontieren, laden sie uns ein, die impliziten Codes, die unser Leben regeln, zu hinterfragen.

Balkenhols Kunst übt auf diese Weise eine Form des stillen Widerstands gegen die Logiken der Spektakularisierung aus, die unsere Zeit dominieren. Angesichts der medialen Hysterie und der expressiven Überbietung stellt sie die ruhige Kraft der Kontemplation entgegen. Seine Figuren verkörpern eine Form stoischer Weisheit: Sie akzeptieren ihre Lage ohne Resignation oder Aufbegehren und finden gerade in dieser Akzeptanz eine Art von Noblesse. Diese Haltung erinnert an das mittelalterliche klösterliche Ideal der Demut, jene Tugend, die darin besteht, seinen Platz in der Ordnung der Welt ohne Stolz oder Verbitterung anzunehmen [3].

Die kritische Rezeption seines Werks zeugt von dieser besonderen Wirksamkeit. Wie der Künstler selbst sagt: “In meiner Vorstellung werden meine Skulpturen zu einer Frage, einem Spiegel. Und es ist der Betrachter, der sie mit Bedeutung füllt” [4]. Diese semantische Offenheit stellt eine der Hauptstärken seiner Arbeit dar: Indem Balkenhol eine eindeutige Lesart verweigert, ermöglicht er jedem Betrachter, seine eigenen Anliegen auf diese rätselhaften Figuren zu projizieren.

Die jüngste Entwicklung seines Werks hin zu monumentaleren Formaten und öffentlichen Aufträgen bestätigt seine Fähigkeit, den sozialen Raum zu erobern. Seine öffentlichen Skulpturen, wie die kürzlich eingeweihte Statue des niederländischen Komponisten Willem Pijper am 4. April 2025 im Kongress- und Konzertpalast De Doelen in Rotterdam, belegen, dass seine künstlerische Sprache sich den Herausforderungen der öffentlichen Kunst anpassen kann, ohne ihre expressive Kraft zu verlieren.

Diese Anpassungsfähigkeit offenbart eine subtile politische Dimension seiner Arbeit. Indem Balkenhol Darstellungen bietet, die der gewöhnlichen Menschlichkeit würdig sind, vollzieht er eine symbolische Demokratisierung der Statue. Seine anonymen Figuren gelangen auf Sockel, die traditionell für Mächtige und Helden reserviert sind. Diese diskrete Subversion des monumentalen Protokolls stellt eine politische Geste dar, die umso effektiver ist, als sie sich niemals als solche ausgibt.

Der wachsende Einfluss Balkenhols auf die junge Bildhauergeneration zeugt von der zeitgenössischen Relevanz seines Ansatzes. Angesichts der technischen und konzeptuellen Komplexität der heutigen Kunst bietet sein handwerklicher und kontemplativer Ansatz eine verlockende Alternative. Er erinnert daran, dass Kunst noch durch ihre Einfachheit berühren, durch ihre Diskretion emotionalisieren und durch ihre offensichtliche Selbstverständlichkeit hinterfragen kann.

Das Werk von Stephan Balkenhol vollbringt diese seltene Meisterleistung: Das Gewöhnliche in ein Archetypus zu verwandeln, das Universelle im Besonderen offenbaren und das Alltägliche zu einem zeitgenössischen Mythos erheben. Seine stillen Figuren sind Meilensteine in unserem Verständnis der modernen menschlichen Existenz. Sie erinnern uns daran, dass echte Kunst nicht schreien muss, um gehört zu werden, sondern manchmal einfach nur wissen muss, wie man schaut und die verborgene Schönheit unserer banalsten Existenz wiedergibt. Damit reiht sich Balkenhol in die Reihe großer humanistischer Künstler ein, die die Würde des gewöhnlichen Menschen gefeiert haben, ohne jemals in Einfachheit oder Selbstgefälligkeit zu verfallen. Seine Kunst ist ein wertvolles Gegenmittel gegen Versuchungen von Grandiosität und Spektakel: Sie lehrt uns, dass wahre Schönheit oft in der gelassenen Akzeptanz unserer gemeinsamen Menschlichkeit liegt.


  1. Artnet, “Stephan Balkenhol Biografie”, konsultiert im Juni 2025
  2. Cooper, David E., “Schöne Menschen, schöne Dinge”, im British Journal of Aesthetics, 2008
  3. Simmel, Georg, “Philosophie des Geldes”, Paris, PUF, 1987
  4. Nordhofen, Eckhard, “Stephan Balkenhol: Skulpturen und Reliefs”, Ausstellungskatalog, 2010
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Referenz(en)

Stephan BALKENHOL (1957)
Vorname: Stephan
Nachname: BALKENHOL
Geschlecht: Männlich
Staatsangehörigkeit(en):

  • Deutschland

Alter: 68 Jahre alt (2025)

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