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Thomas Struth : Anatomie des zeitgenössischen Blicks

Veröffentlicht am: 9 September 2025

Von: Hervé Lancelin

Kategorie: Kunstkritik

Lesezeit: 9 Minuten

Thomas Struth entwickelt seit den 1970er Jahren eine investigative Fotografie, die die verborgenen Strukturen unserer Zeit enthüllt. Seine Bilder von Städten, Familien, Museen und Laboren bilden eine Archäologie der Gegenwart, die die unsichtbaren Mechanismen erfasst, die unsere kollektiven Räume und unseren zeitgenössischen Blick organisieren.

Hört mir gut zu, ihr Snobs, Thomas Struth ist weder der kalte Chronist, den manche zu sehen glauben, noch der bloße Erbe der Becher, den man beharrlich beschreibt. Dieser 71-jährige Mann bietet uns seit fast fünf Jahrzehnten ein Werk mit unbarmherziger Kohärenz, das wie eine Kathedrale des zeitgenössischen Bildes gebaut ist, in der jede Serie mit den anderen in einem so strengen logischen System kommuniziert wie ein philosophisches System. Seine Kamera wird zum Instrument einer ständigen Untersuchung der Strukturen, die unser kollektives Dasein organisieren, von den verlassenen Straßen Düsseldorfs bis zu den Laboren des CERN, über diese verstörenden Familienporträts und Museumszenen, in denen das ewige Theater des Blicks gespielt wird.

Die urbane Untersuchung

Bereits Ende der 1970er Jahre entwickelt Struth einen fotografischen Ansatz, der mit den dokumentarischen Konventionen seiner Zeit bricht. Seine städtischen Schwarzweißfotografien enthüllen weniger die sichtbare Oberfläche der Städte als deren tiefere Struktur, jene verborgene Geometrie, die unsere Bewegungen und Begegnungen organisiert. In Düsselstrasse, Düsseldorf (1979) begnügte sich der Künstler nicht damit, eine urbane Landschaft zu dokumentieren: Er offenbart die zeitliche Schichtung einer Gesellschaft, jene Schichten aufeinanderfolgender Absichten, die sich im öffentlichen Raum ansammeln, wie geologische Schichten vom langen Verlauf der Erde zeugen.

Diese Methode findet eine besondere Resonanz im Werk von Robert Musil [1], diesem österreichischen Schriftsteller, der den modernen Menschen als geformt durch „die Gegenformationen dessen, was er geschaffen hat” beschrieb. In Der Mann ohne Eigenschaften beobachtete Musil, dass „die Mauern der Straße von Ideologien strahlen”, eine Formulierung, die scheinbar für Struths Stadtfotografien geschrieben wurde. Der deutsche Künstler erfasst genau diese ideologischen Strahlungen in seinen frontalen Rahmen und zentralen Perspektiven. Jede Fassade, jedes Fenster, jede Gebrauchsspuren erzählt die Geschichte einer kollektiven Entscheidung, einer architektonischen Wahl, einer pragmatischen Anpassung an die Zwänge des Realen.

Die Stadt wird nach Struth zu einem riesigen Zeugnis, in dem sich die Absichten zahlreicher historischer Akteure überlagern. Architekten, Stadtplaner, Bewohner, Händler, öffentliche Behörden: Alle haben ihre Spuren in diesen Räumen hinterlassen, die das Objektiv als „unbewusste Orte” offenbart, an denen sich die Machtverhältnisse einer Epoche kristallisieren. Dieser Ansatz geht weit über eine bloße soziologische Feststellung hinaus und erreicht eine wahre Archäologie der Gegenwart, in der jedes architektonische Detail von den Spannungen zeugt, die den sozialen Körper prägen.

Das systematische Fehlen menschlicher Figuren in diesen Bildern verstärkt ihre Dimension als Untersuchung der Strukturen und nicht der Individuen. Struth lädt uns ein zu verstehen, wie die gebaute Umwelt unser Verhalten, unsere Bewegungen und unsere Möglichkeiten der Begegnung oder Isolierung bedingt. Diese leeren Straßen sind nicht entvölkert: Sie sind gesättigt von der geisterhaften Anwesenheit all jener, die sie durchquert, verändert und bewohnt haben. Der Fotograf offenbart so die tief politisch geprägte Dimension des urbanen Raums, diese Fähigkeit des architektonischen Rahmens, unsere Gesten und Gedanken nach Logiken zu lenken, die uns übersteigen.

Familienporträts

Die Entwicklung hin zur Familienfotografie markiert einen entscheidenden Wendepunkt in Struths Werk. Diese Porträts, begonnen in den 1980er Jahren in Zusammenarbeit mit dem Psychoanalytiker Ingo Hartmann, erforschen die Mechanismen, durch die grundlegende soziale Strukturen weitergegeben werden. Fernab der Konventionen des bürgerlichen Porträts offenbaren diese Bilder die Komplexität der zeitgenössischen familiären Dynamiken, diese subtilen Spielarten von Nähe und Distanz, die die Beziehungen zwischen den Generationen organisieren.

Die Bezugnahme auf die Theorien von Jacques Lacan [2] ist hier unerlässlich, um die volle Tragweite dieser Kompositionen zu erfassen. Der französische Psychoanalytiker hatte gezeigt, wie die Familie den ersten Ort der symbolischen Strukturierung des Individuums bildet, diesen Raum, in dem sich die Beziehung zu Autorität, Geschlechterunterschieden und der intergenerationellen Weitergabe verknüpft. Die Porträts von Struth machen genau diese Mechanismen sichtbar, die in der räumlichen Organisation der Körper, der Verteilung der Blicke und der Gestik, die die unbewussten Anliegen jeder familiären Konstellation verrät, wirksam sind.

In The Richter Family (1989) beispielsweise offenbart die Anordnung der Personen weit mehr als eine einfache ästhetische Komposition: Sie kartiert Machtverhältnisse, stillschweigende Allianzen und emotionale Distanzen, die dieses soziale Mikrokosmos strukturieren. Die Anwesenheit des Sohnes im Arm des Vaters, der Abstand zur Ehefrau, die Platzierung der Gegenstände im häuslichen Raum: jedes Detail trägt zu einer relationalen Grammatik bei, die Struths Objektiv mit klinischer Präzision entschlüsselt.

Diese Bilder funktionieren als so viele “primitiven Szenen” im Sinne von Lacan, jene Grundmomente, in denen sich die psychische Organisation des Subjekts kristallisiert. Indem Struth seine Angehörigen und deren Familien fotografiert, verfällt er niemals in einen intimen Komplizenschaftston: Er wahrt diese analytische Distanz, die es ermöglicht, die universellen Mechanismen zu erfassen, die in diesen singulären Konfigurationen wirken. Seine Porträts zeigen, wie jede Familie die relationalen Modelle, die aus der kollektiven Geschichte geerbt wurden, reproduziert, anpasst oder subvertiert.

Die fotografische Technik selbst trägt zu dieser psychoanalytischen Herangehensweise bei. Die relativ langen Belichtungszeiten, die Notwendigkeit, eine statische Position einzunehmen, das geteilte Warten vor dem Objektiv: all diese Elemente schaffen eine künstliche Situation, die die normalerweise durch die Fluidität der täglichen Interaktionen verborgenen Spannungen offenbart. Struth verwandelt den fotografischen Akt so in ein aufdeckendes Mittel, das die unbewussten Strukturen ans Licht bringt, die familiäre Bindungen organisieren.

Der Künstler vermeidet sorgfältig die Falle des Voyeurismus, indem er seine Modelle in ihrer Würde behält. Diese Familien posieren mit Ernst, sich bewusst, dass sie an einem Unternehmen teilnehmen, das sie übersteigt. Sie werden zu Repräsentanten größerer sozialer Konfigurationen, die es dem Betrachter ermöglichen, in diesen unbekannten Gesichtern etwas von den Mechanismen zu erkennen, die seine eigene Familiengeschichte organisieren. Diese Universalisation des Besonderen stellt eine der großen ästhetischen Herausforderungen dieser Serie dar, die die persönliche Anekdote in eine anthropologische Offenbarung verwandelt.

Museumsfotografien

Die Reihe der Museumsfotografien, die seit Ende der 1980er Jahre entwickelt wurde, stellt vielleicht die am weitesten entwickelte Vollendung von Struths Ansatz dar. Diese Bilder, die Besucher zeigen, die Kunstwerke betrachten, inszenieren die Komplexität der zeitgenössischen ästhetischen Erfahrung und hinterfragen zugleich die Bedingungen der Möglichkeit des künstlerischen Blicks in unserer bildüberfluteten Zeit.

Art Institute of Chicago II (1990) ist ein perfektes Beispiel für diesen Ansatz. Eine Frau mit einem Kinderwagen steht vor Rue de Paris, temps de pluie von Gustave Caillebotte. Ihre zeitgenössische Silhouette spiegelt die Figuren des impressionistischen Gemäldes wider und schafft einen eindrucksvollen zeitlichen Dialog zwischen zwei Epochen der urbanen Moderne. Struth zeigt so, wie die Kunst der Vergangenheit weiterhin unsere Gegenwart erhellt, aber auch, wie unser zeitgenössischer Blick rückwirkend die Bedeutung der alten Werke verändert.

Diese Fotografien funktionieren nach einer schwindelerregenden Mise-en-abyme-Logik: Wir schauen Menschen zu, die Kunstwerke betrachten, die andere Menschen zeigen, wie sie die Welt betrachten. Diese Vervielfachung der Betrachtungsebenen offenbart die grundlegend reflexive Dimension der künstlerischen Erfahrung. Struth dokumentiert nicht nur den Museumsbesuch: Er hinterfragt die Mechanismen, durch die sich unser kollektives Verhältnis zur Kunst und zur Geschichte bildet.

Der Einfluss der Gedanken von Hans Belting auf diese Serie ist hervorzuheben. Der deutsche Kunsthistoriker zeigte, wie Bilder als “Labyrinthe” fungieren, in denen unsere Versuche, das Sichtbare rational zu beherrschen, sich verlieren. Struths Fotografien aktualisieren diese Intuition, indem sie die Komplexität der Wahrnehmungsprozesse enthüllen, die bei der künstlerischen Betrachtung wirken. Jeder Besucher bringt seine Geschichte, seine Bezüge, seine Erwartungen mit und schafft eine interpretative Polyphonie, die der fotografische Blick in ihrer kollektiven Dynamik einfängt.

Die räumliche Organisation dieser Bilder zeigt ebenfalls eine tiefgehende Reflexion über die politischen Herausforderungen der kulturellen Verbreitung. Diese Menschenmassen, die sich vor der La Joconde oder den Fresken von Raphael drängen, zeugen von der Demokratisierung des Kunstzugangs, aber auch von deren Verwandlung in ein Konsumspektakel. Struth vermeidet sorgfältig die Falle der einfachen Anklage: Seine Bilder offenbaren vielmehr die Persistenz des ästhetischen Verlangens im Herzen jener Aufmerksamkeitsökonomie, die unsere Epoche kennzeichnet.

Natur und Politik: Die technologische Ermittlung

Die Serie Nature et Politique (2008, 2015) markiert einen neuen Abschnitt in der Entwicklung von Struths Werk. Diese Fotografien von wissenschaftlichen Laboren und technologischen Einrichtungen enthüllen die Rückseite unserer technischen Zivilisation, jene gewöhnlich unsichtbaren Orte, an denen unsere kollektive Zukunft gestaltet wird. Der Künstler führt dort seine Untersuchung zeitgenössischer Strukturen fort, mit einer Methode, die die Erkenntnisse seiner früheren Forschungen synthetisiert.

In Tokamak Asdex Upgrade Periphery (2009) konfrontiert uns Struth mit der schwindelerregenden Komplexität der Kernfusionsanlagen, die am Max-Planck-Institut entwickelt werden. Diese Verflechtungen von Kabeln, Rohren und diversen Apparaturen offenbaren die Existenz einer technischen Welt, die unserem allgemeinen Verständnis weitgehend entgeht. Der Künstler will nicht erklären oder popularisieren: Er zeigt vielmehr die wachsende Kluft zwischen der Raffinesse unserer Werkzeuge und unserer kollektiven Fähigkeit, ihre Tragweite zu erfassen.

Diese Bilder funktionieren als Allegorien unserer zeitgenössischen Situation, gefangen zwischen technologischen Versprechen und unserer Unfähigkeit, deren Konsequenzen zu kontrollieren. Struth enthüllt die plastische Schönheit dieser Installationen und bewahrt zugleich ihren rätselhaften Charakter. Diese Labore werden zu den Kathedralen unserer Zeit, Kultstätten einer technischen Rationalität, die vorgibt, die ökologischen und energetischen Herausforderungen der Menschheit zu lösen.

Die Serie endet mit einer beunruhigenden Meditation durch Fotografien toter Tiere, aufgenommen am Leibniz-Institut in Berlin. Diese Bilder von Zebras, Bären oder Füchsen, eingefangen in ihrem letzten Ruhestätte, offenbaren die universelle Verletzlichkeit des Lebens angesichts der Versprechen technologischer Unsterblichkeit. Struth stellt so einen bewegenden Dialog zwischen unseren promethäischen Ambitionen und der unveränderlichen Realität der Sterblichkeit her und erinnert daran, dass jede Politik in die Grenzen der natürlichen Bedingung eingeschrieben bleibt.

Die Architektur eines Gesamtwerks

Thomas Struths Werk widersteht Versuchen der Einordnung in getrennte Serien. Vielmehr funktioniert es als ein komplexes System, in dem jede Bildgruppe mit den anderen gemäß einer Gesamtlogik in Dialog tritt, die nach und nach ihre Kohärenz offenbart. Diese globale Architektur verwandelt jedes einzelne Foto in ein Element einer umfassenderen Untersuchung der zeitgenössischen Bedingungen des Sehens und der Repräsentation.

Dieser systemische Ansatz reiht Struth ein in die großen Ermittler der Moderne, von Charles Dickens, der die Veränderungen im industriellen London beschreibt, bis zu James Joyce, der Dublin in Ulysse kartografiert. Wie diese Schriftsteller erschafft der deutsche Fotograf ein Weltwerk, das die tiefgreifenden Umwälzungen seiner Zeit erfassen kann, nach einer Methode, die analytische Strenge mit ästhetischem Gespür verbindet.

Der Einfluss seiner Ausbildung in der Malerei bleibt in diesem architektonischen Konzept des fotografischen Werks spürbar. Struth komponiert seine Serien wie ein Maler, der die Elemente eines Altars organisiert: Jedes Paneel besitzt seine Autonomie und beteiligt sich dennoch an einem übergeordneten Projekt. Dieser Ansatz ermöglicht es ihm, die Falle dokumentarischer Illustration zu vermeiden und eine echte Poetik des Zeitgenössischen zu erreichen.

Die besondere Zeitlichkeit dieser Konstruktion ist interessant. Im Gegensatz zu den Logiken medialer Aktualität entwickelt Struth seine Forschungen in einem langsamen Rhythmus, der ihm erlaubt, sein Verständnis der untersuchten Phänomene allmählich zu vertiefen. Diese Geduld offenbart seine Schuld gegenüber der deutschen Tradition der Bildung, jener allmählichen Bewusstseinsbildung durch die vernünftige Anhäufung von Erfahrungen und Wissen.

Struths Werk zeugt von einer seltenen Ambition in der zeitgenössischen Kunst: ein Repräsentationssystem zu schaffen, das die Komplexität der modernen Welt erfassen kann, ohne dabei analytische Strenge oder ästhetische Ansprüche zu opfern. Diese Synthese ordnet den deutschen Fotografen unter die unentbehrlichen Schöpfer ein, um die Wandlungen unserer Zeit und die Herausforderungen, die sie für unsere kollektive Fähigkeit zur Darstellung und Handlung darstellen, zu verstehen.

In einer Welt, die von sofortigen Bildern übersättigt ist, erinnert uns Thomas Struth daran, dass Fotografie noch immer als Instrument der Erkenntnis und Offenbarung dienen kann. Sein Werk beweist, dass die Geduld des Blicks unsichtbare Strukturen enthüllen kann, dass die Strenge der Komposition verborgene Wahrheiten offenlegen kann und dass Kunst noch immer das Potenzial hat, unsere gemeinsame Bedingung zu erhellen, ohne ihre ästhetische Dimension aufzugeben. Diese Lehre ist in unserer Epoche visueller Verwirrung und Bildüberproduktion aktueller denn je.


  1. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Seuil, 1956-1957
  2. Jacques Lacan, Schriften, Seuil, 1966
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Referenz(en)

Thomas STRUTH (1954)
Vorname: Thomas
Nachname: STRUTH
Geschlecht: Männlich
Staatsangehörigkeit(en):

  • Deutschland

Alter: 71 Jahre alt (2025)

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