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Vojtěch Kovařík: Jenseits des klassischen Mythos

Veröffentlicht am: 7 April 2025

Von: Hervé Lancelin

Kategorie: Kunstkritik

Lesezeit: 7 Minuten

Vojtěch Kovařík verwandelt die griechischen Mythen mit einer eindringlichen Kühnheit. Seine monumentalen Gemälde mit lebendigen Farben erfinden die antiken Gottheiten als zeitgenössische Figuren neu und schaffen einen visuellen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der unsere Wahrnehmung der figurativen Kunst erschüttert.

Hört mir gut zu, ihr Snobs, es gibt ein Phänomen in der zeitgenössischen Kunst, das eure sofortige Aufmerksamkeit verdient. Vojtěch Kovařík, dieser junge tschechische Maler, geboren 1993, demontiert mutig alte Mythen, um sie besser in unserer zeitgenössischen Welt wiederzubeleben.

Seine monumentalen Gemälde sind nicht nur Neuinterpretationen der griechischen Mythologie, sondern visuelle Offenbarungen, die diese uralten Erzählungen in scharfe Kommentare über unsere Gesellschaft verwandeln. Seine herkulischen Figuren mit übertriebenen Proportionen und bläulichen, grünlichen oder gelblichen Tönen füllen den Raum mit einer zugleich imposanten und verletzlichen Präsenz.

Aber Vorsicht: Es ist keine bloße kulturelle Aneignung, wie es ein Kritiker von Art Review vorgeschlagen hat. Es ist vielmehr eine tiefgehende und notwendige Subversion der westlichen Kanones. Kovařík entwurzelt diese Figuren aus ihrem klassischen europäischen Kontext und verwandelt sie in Gemälde, die die Konstruktion unserer kulturellen Identität selbst in Frage stellen.

Lassen Sie uns einen Schritt zurücktreten und betrachten, was Kovařík tatsächlich tut. Er erschafft gemalte Gottheiten, die aus einem Zwischenreich zwischen Skulptur und Malerei zu entspringen scheinen. Der Künstler, der früher Keramik studierte, verwendet Sand in seinen Gemälden, was ihnen eine körnige Textur verleiht, die an Stein und Marmor erinnert. Diese Technik erinnert an die von Aloïs Riegl entwickelte haptische Theorie, nach der Kunst zwischen taktiler und optischer Wahrnehmung pendelt [1]. In Kovaříks Werken wird die Oberfläche des Gemäldes zu einem Territorium, in dem sich die beiden Wahrnehmungsmodi vermischen und die physische Kraft des Bildes wiederbeleben in einer Zeit, in der wir von immateriellen Bildern auf unseren Bildschirmen überschwemmt werden.

Es gibt etwas köstlich Ironisches in der Art und Weise, wie seine mythologischen Figuren gefangen im Gemälde zu sein scheinen, als ob der Rahmen zu klein wäre, um ihre Größe zu fassen. In „Atlas Holds the Firmament on his Shoulders” (2023) scheint die monumentale Figur des Atlas vom Gewicht des Firmaments erdrückt zu werden, aber auch von den Grenzen der Leinwand selbst. Ist das nicht eine perfekte Metapher für unseren zeitgenössischen Zustand? Wir sind alle moderne Atlas, erdrückt vom Gewicht der kulturellen Mythen, die wir tragen, ohne es überhaupt zu merken.

Kovařík reiht sich ein in eine Reihe von Künstlern, die die Mythologie durch ihre eigene Sensibilität neu interpretiert haben, wie Picasso in seiner neoklassizistischen Phase oder Francis Bacon mit seinen gequälten Figuren. Aber im Gegensatz zu seinen Vorgängern injiziert Kovařík diesen göttlichen Figuren eine Portion Menschlichkeit. Sein Herkules ist nicht der triumphierende Held der klassischen Tradition, sondern eine melancholische und introspektive Gestalt. In „Hercules Dips his Arrows in the Hydra’s Poisonous Black Blood” (2023) sehen wir nicht den Moment des Ruhms im Kampf, sondern das Danach, einen Moment der ruhigen Kontemplation, der den Halbgott vermenschlicht.

Apropos Kontemplation, es ist unmöglich, die Parallelen zwischen Kovaříks Arbeit und der Philosophie Friedrich Nietzsches zur griechischen Mythologie zu ignorieren. In „Die Geburt der Tragödie” erforscht Nietzsche, wie die Griechen Kunst nutzten, um den Schrecken der Existenz in etwas Erträgliches zu verwandeln [2]. Ebenso nimmt Kovařík die oft gewalttätigen Erzählungen der griechischen Mythologie und verwandelt sie in visuelle Meditationen über die menschliche Existenz. Seine Götter sind nicht distanziert und perfekt, sondern unvollkommen und verletzlich, genau wie wir.

Dieser Entmythifizierungsansatz zeigt sich besonders deutlich in seiner Darstellung weiblicher Figuren. Seine “Aphrodite” ist nicht die ätherische und zarte Göttin von Botticelli, sondern eine imposante und kraftvolle Gestalt. Sie ist eine Göttin, die sich weigert, auf ein bloßes Objekt männlichen Begehrens reduziert zu werden. In einer noch immer von männlichen Blicken dominierten Kunstwelt ist diese Neuinterpretation weiblicher Figuren der Mythologie sowohl erfrischend als auch notwendig.

Die Farbpalette von Kovařík ist ebenso subversiv wie seine Motive. Seine elektrischen Blautöne, säuregrünen und brennenden Orangetöne schaffen ein visuelles Universum, das zwischen Traum und Alptraum oszilliert. Diese nicht naturalistischen Farben erinnern uns daran, dass wir uns in einem mythologischen Reich befinden, verankern uns jedoch zugleich fest in der Gegenwart durch ihre zeitgenössische Lebendigkeit.

Als Kunstkritiker sehe ich oft Künstler, die sich hinter kulturellen Referenzen verstecken, ohne der Diskussion etwas hinzuzufügen. Kovařík gehört nicht dazu. Er verarbeitet seine Einflüsse wirklich, von Picasso bis Léger, von sowjetischen Skulpturen bis zu mexikanischen Fresken, um etwas zutiefst Persönliches und Zeitgenössisches zu schaffen.

Seine Arbeit ist besonders relevant in einer Zeit, in der die radikale Rechte die klassische Antike als Symbol einer angeblich “reinen westlichen Kultur” vereinnahmt. Indem er Herkules mit unterschiedlichen Hautfarben und androgynen Zügen darstellt, zeigt Kovařík die Absurdität dieser Aneignung auf. Er erinnert uns daran, dass diese Mythen der ganzen Menschheit gehören, nicht nur denen, die sie nutzen wollen, um kulturelle Mauern zu errichten.

Nietzsche hat uns gelehrt, dass Mythen keine ewigen Wahrheiten sind, sondern kulturelle Konstruktionen, die sich mit uns weiterentwickeln [3]. Kovařík scheint diese Idee tief zu verstehen. Seine Gemälde sind keine Illustrationen alter Mythen, sondern Neuerfindungen, die sie für unsere Zeit relevant machen.

Die Nietzscheanische Philosophie zeigt sich auch in der Spannung zwischen Apollinischem und Dionysischem, die sich in Kovaříks Werk findet. Das formale Gleichgewicht seiner Kompositionen (das apollinische Element) steht im Kontrast zur rohen Expressivität seiner Pinselstriche und Farben (das dionysische Element). Diese Spannung erzeugt eine visuelle Energie, die den Betrachter in einem Zustand aktiver Kontemplation hält.

Was Kovaříks Arbeit wirklich fesselnd macht, ist die Navigation zwischen verschiedenen künstlerischen Traditionen. Er schöpft aus europäischer klassischer Kunst, aber auch aus der Ästhetik sowjetischer Propaganda-Plakate und dem Expressionismus der mexikanischen Wandmaler wie Diego Rivera und José Clemente Orozco. Diese Verschmelzung von Einflüssen schafft eine visuelle Sprache, die kulturelle Grenzen überschreitet.

Jorge Luis Borges schlägt in seinem Essay “Kafka und seine Vorläufer” vor, dass jeder Künstler seine eigenen Vorläufer erschafft [4]. Ebenso schafft Kovařík seine eigene künstlerische Linie, indem er disparate Einflüsse zu einem kohärenten Ganzen verbindet. Sein Gemälde “Four Seasons” (2023) mit der Darstellung von Persephone ruft sowohl antike Fresken als auch zeitgenössische Kunst hervor und schafft eine zeitliche Brücke, die unser lineares Verständnis der Kunstgeschichte herausfordert.

Die vergleichende Literaturwissenschaft bietet einen interessanten Rahmen zum Verständnis von Kovaříks Arbeit. So wie literarische Studien untersuchen, wie Texte kulturelle und sprachliche Grenzen überschreiten, durchquert Kovaříks Werk zeitliche und stilistische Grenzen. Er schafft, was Homi Bhabha einen “dritten Raum” nennen würde [5], einen Ort kultureller Aushandlung, an dem neue Bedeutungen entstehen können.

In “Leandros and Hero” (2024) stellt Kovařík die tragische Geschichte zweier Liebender dar, die durch das Meer getrennt sind. Die Komposition, in der Hero eine leuchtende Kugel hält und gesenkt blickt, während Leandros über ihr schwebt, fängt den Moment der Spannung vor der Katastrophe perfekt ein. Es ist ein Gemälde, das von Liebe, aber auch von Trennung und Grenzen spricht, universelle Themen, die durch Kulturen und Zeiten hindurch widerhallen.

Der Literaturkritiker Harold Bloom sprach von der “Angst vor dem Einfluss” [6], jener Angst, die Künstler gegenüber dem Gewicht ihrer Vorgänger empfinden. Kovařík scheint diese Angst in eine kreative Kraft verwandelt zu haben. Er versucht nicht, dem Einfluss der Kunstgeschichte zu entkommen, sondern umarmt ihn, während er ihn gleichzeitig subvertiert.

Was mich an Kovaříks Arbeit am meisten beeindruckt, ist seine Aufrichtigkeit. In einer oft zynischen und selbstreferentiellen Kunstwelt wagt er es, Werke zu schaffen, die direkt zu den grundlegenden menschlichen Emotionen sprechen: Liebe, Angst, Melancholie, die Suche nach Sinn. Seine Gemälde sind keine kalten intellektuellen Spielereien, sondern warme und pulsierende Ausdrucksformen der menschlichen Existenz.

Vojtěch Kovařík erinnert uns daran, warum wir Mythen brauchen: nicht als erstarrte Erzählungen einer idealisierten Vergangenheit, sondern als lebendige Geschichten, die sich mit uns weiterentwickeln und uns helfen, die Komplexität unseres Daseins zu navigieren. Seine verwandelten Titanen sind unsere zeitgenössischen Spiegel, die unsere eigenen Kämpfe und Sehnsüchte in einer visuellen Sprache reflektieren, die die Zeit übersteigt.

Wenn Sie also das nächste Mal hören, dass gegenständliche Malerei überholt sei, verweisen Sie auf das Werk von Kovařík. Zeigen Sie ihnen, wie dieser tschechische Künstler dieses alte Medium für unsere beunruhigte Zeit neu erfindet. Und wenn sie dadurch nicht überzeugt sind, nun ja, dann können sie sich woandershin wenden. Kunst ist zu wichtig, um sie den Zynikern und Abgestumpften zu überlassen.


  1. Riegl, A. (1901). Spätantike Kunstindustrie. Wien: Österreichisches Archäologisches Institut.
  2. Nietzsche, F. (1872). Die Geburt der Tragödie. Leipzig: E.W. Fritzsch.
  3. Nietzsche, F. (1886). Jenseits von Gut und Böse. Leipzig: C.G. Naumann.
  4. Borges, J.L. (1951). “Kafka und seine Vorläufer” in Untersuchungen. Buenos Aires: Editorial Sur.
  5. Bhabha, H.K. (1994). The Location of Culture. London: Routledge.
  6. Bloom, H. (1973). The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry. New York: Oxford University Press.
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Referenz(en)

Vojtěch KOVAŘÍK (1993)
Vorname: Vojtěch
Nachname: KOVAŘÍK
Geschlecht: Männlich
Staatsangehörigkeit(en):

  • Tschechien

Alter: 32 Jahre alt (2025)

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