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Die sensorischen Geologien von Marcello Lo Giudice

Veröffentlicht am: 20 Mai 2025

Von: Hervé Lancelin

Kategorie: Kunstkritik

Lesezeit: 10 Minuten

Marcello Lo Giudice verwandelt Leinwände in geologische Territorien, in denen Pigmente und Materialien kollidieren. Durch ein Spiel von Abrasionen, Sedimentationen und farbigen Schichten schafft er abstrakte Landschaften, die primitive Erdformationen, ferne Welten und ozeanische Räume heraufbeschwören.

Hört mir gut zu, ihr Snobs. Wenn ihr denkt, abstrakte Kunst sei tot, dann habt ihr niemals wirklich ein Gemälde von Marcello Lo Giudice betrachtet. Dieser Sizilianer, geboren 1957 in Taormina, bietet uns eine Malerei, die nichts von jener fade und überintellektualisierten Abstraktion hat, die unsere zeitgenössischen Galerien bevölkert. Nein, Lo Giudice präsentiert uns eine sinnliche, fast primitive Reise zu den Ursprüngen der Materie.

Seine Werke, ausgestellt im MAXXI in Rom, im Königspalast in Mailand und an anderen bedeutenden Kunstorten, schaffen Fenster zu parallelen Welten mit ihren imposanten Gemälden. Seine “Eden”, wie er sie nennt, entführen uns auf ferne Planeten in wüstenhafte Landschaften aus reinen Pigmenten, inspiriert von den unsichtbaren Klängen des Universums. Jede Farbe wird als Individuum behandelt, und die Kombination dieser Individuen erschafft eine Explosion blendenden Lichts, wie am Tag des Urknalls.

Lo Giudice ist kein Maler, der sich mit hübsch Sein begnügt. In seiner Arbeit steckt eine fast geologische Tiefe, und das aus gutem Grund: Der Mann studierte Geologie an der Universität Bologna, bevor er die Kunstakademie in Venedig besuchte. Diese wissenschaftliche Ausbildung war nicht umsonst. Sie ermöglichte ihm, einen einzigartigen Zugang zur Malerei zu entwickeln, bei dem die Materie nicht einfach aufgetragen, sondern verwandelt, metamorphosiert wird.

Die aufmerksame Beobachtung seiner Gemälde offenbart ein komplexes Universum von Schichten, Sedimenten und übereinanderliegenden Pigmenten, die abgekratzt, erodiert und abgeschliffen wurden, um darunterliegende Schichten sichtbar zu machen. Diese Arbeit erinnert nicht ohne Grund an geologische Prozesse selbst, wie Erosion, Sedimentation und tektonische Bewegungen. Aber es wäre zu kurz gegriffen, sein Werk nur als ästhetische Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse zu sehen.

Denn Lo Giudice ist vor allem ein Maler im sinnlichsten Sinne des Wortes. Er pflegt eine fast sinnliche Beziehung zum Material. “Meine Beziehung zum Material kann mit einer tiefen und starken Verbindung zwischen einem Fischer und seinem Fisch verglichen werden” [1], gesteht er. Diese Aussage könnte absurd erscheinen, wenn man sein Werk nicht kennen würde. Aber angesichts seiner Gemälde versteht man es. Es gibt etwas Organisches, Lebendiges in diesen texturierten Oberflächen.

Ultramarinblau erzählt von Ozeankämmen und weiten Meeren, Gelb wird zu einer von der Sonne verbrannten Erde, die roten und schwarzen Töne erinnern an Lavaströme und Vulkankrater. Es ist unmöglich, nicht an die Heimat Sizilien des Künstlers zu denken, ein Land der Vulkane und Kontraste. Aber es wäre erneut zu engstirnig, seine Malerei nur auf eine Landschaftsdarstellung zu reduzieren.

In seinen abstrakten Werken lädt uns Lo Giudice zu einer fast meditativen Erfahrung ein. Farbe ist nicht einfach ein Medium, sie wird zu einer eigenständigen Entität, fast zu einer Manifestation kosmischer Kräfte. Man könnte in diesem Ansatz eine Form von Spiritualität sehen, aber eine Spiritualität, die im Materiellen, im Greifbaren verankert ist.

Auch die ökologische Dimension seiner Arbeit ist zu beachten. Lo Giudice engagiert sich im Umweltschutz, insbesondere durch das Projekt “Save Mediterranean Sea” an der Seite von Fürst Albert II. von Monaco. Seine Malerei ist nicht nur eine Feier der Schönheit unseres Planeten, sondern auch ein Aufruf zu dessen Erhaltung. Diese Haltung ist zutiefst bewegend, eine Form von Demut angesichts der Größe und Zerbrechlichkeit unserer Umwelt.

Aber täuschen wir uns nicht, Lo Giudice ist kein naiver Künstler. Er steht in einer Tradition, der europäischen Informellen Kunst, einer Bewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand und den formalen Aspekt der Kunst betonte, wobei der Behandlung des Pigments besondere Bedeutung zukam. Man kann Einflüsse großer Namen wie Dubuffet oder Klein erkennen, doch mit einer eigenen Stimme.

Was mir an Lo Giudice gefällt, ist seine Fähigkeit, Werke zu schaffen, die gleichermaßen intensiv körperlich und tief kontemplativ sind. In seiner Arbeit besteht eine Spannung zwischen der Geste des Malers, der das Material aufträgt, kratzt und verwandelt, und der Kontemplation des Betrachters vor diesen abstrakten Landschaften, die grundlegende Realitäten heraufbeschwören.

Nehmen wir zum Beispiel seine Serie “Eden”, in der oft Blau dominiert. Diese Werke sind nicht nur schön, sie sind aussagekräftig. Sie sprechen von unendlichen Räumen, ozeanischen Tiefen, grenzenlosen Himmeln. Es gibt etwas vom kantischen Erhabenen in diesen Gemälden, eine Schönheit, die das Verständnis übersteigt und uns unserer eigenen Kleinheit gegenüberstellt.

Der erste Kontakt mit seiner Arbeit könnte Skepsis hervorrufen. Wieder ein abstrakter Maler, der mit Material und Farbe spielt, könnte man denken. Aber bei Lo Giudice gibt es eine Aufrichtigkeit, eine Authentizität, die Modeerscheinungen und Strömungen übersteigt. Er versucht nicht, im Trend zu liegen, sondern folgt seinem eigenen Weg mit bemerkenswerter Konstanz und Kohärenz.

Die Kontroverse um seine Arbeit ist aufschlussreich. Einige Kritiker sehen in seinen Gemälden eine Form der Rückwendung zu einem überholten abstrakten Expressionismus. Andere betrachten sie als notwendige Fortsetzung der Erforschung von Material und Farbe. Diese beiden Standpunkte verfehlen das Wesentliche. Lo Giudice ist weder ein Nostalgiker noch ein Revolutionär. Er ist einfach ein Künstler, der seine eigene Sprache gefunden hat und sie mit bewundernswerter Leidenschaft und Strenge erkundet.

Was an seinem Werdegang interessant ist, ist dieser Übergang vom Konzeptionellen zum Materiellen. In den 1970er Jahren arbeitete Lo Giudice in einem konzeptionellen Stil und verwendete Mischmaterialien wie Wachs, Erdbeeren und Rauch. Anschließend entwickelte er seinen eigenen Stil und integrierte seine geologischen Kenntnisse, um große organische Landschaften zu schaffen. Diese Entwicklung zeugt von einer authentischen Suche, eines Künstlers, der ständig bemüht ist, seine Praxis zu vertiefen.

Die Geologie als künstlerische Inspiration ist nicht neu. Künstler wie Robert Smithson oder Michael Heizer haben das Verhältnis von Kunst und Erde in ihren Land-Art-Werken erkundet. Aber Lo Giudice bringt eine andere Dimension in diese Erforschung ein. Er arbeitet nicht direkt mit Erde, sondern fängt ihre Essenz, Prozesse und Transformationen ein.

Dieser Ansatz erinnert mich an die Überlegungen von Claude Lévi-Strauss zur Beziehung zwischen Natur und Kultur [2]. In “La Pensée Sauvage” untersucht der französische Anthropologe, wie menschliche Gesellschaften natürliche Elemente interpretieren und transformieren, um Sinn zu schaffen. Lo Giudice tut etwas Ähnliches. Er nimmt natürliche Prozesse wie Erosion, Sedimentation und Metamorphose von Gesteinen und verwandelt sie in künstlerische Gesten, in kulturelle Schöpfungen.

Lévi-Strauss zeigt uns, wie Mythen Versuche sind, die natürliche Welt zu organisieren und zu verstehen. Ebenso können die Gemälde von Lo Giudice als visuelle Mythen betrachtet werden, Versuche, Naturkräfte zu formen, die über uns hinausgehen. In seiner Arbeit gibt es eine Form von wilder Denkweise, eine Intelligenz, die nicht durch abstrakte Konzepte, sondern durch Materie und Sinnlichkeit vermittelt wird.

Diese anthropologische Dimension zeigt sich besonders deutlich in seiner Serie “Totem”. Seit 1989 arbeitet Lo Giudice an diesen ungewöhnlichen Skulpturen: verbrannte, zerrissene, ausgehöhlte Matratzen, die dann mit mehreren dicken Farbschichten (Pigment und Emaille) bemalt wurden. Diese Totems symbolisieren die Gräuel des Krieges, inspiriert von einem Fernsehbild aus dem ersten Golfkrieg, in dem ein ziviles Haus irrtümlich von einer Rakete getroffen wurde: Trümmer, zerrissene Körper und verschiedene zerstörte Gebrauchsgegenstände wie eine Matratze.

Diese Totems erinnern an rituelle Objekte traditioneller Gesellschaften, die Lévi-Strauss studierte. Sie erfüllen eine ähnliche Funktion: die Gewalt auszutreiben, der Toten zu gedenken und eine Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und der Verstorbenen herzustellen. Lo Giudice reaktiviert damit eine primitive Funktion der Kunst, nämlich der Sinngebung von Gewalt und Tod.

Diese rituelle Dimension findet sich auch in seiner Serie “Dalla Primavera del Botticelli” (nach Botticellis Frühling), wo die Matratze vollständig ausgehöhlt ist und ihre Grundstruktur nun eine große Anzahl von Keramikschmetterlingen aus Albisola beherbergt, die “Die Schönheit, die auf Gewalt und Krieg ruht” darstellen. Der Schmetterling, ein universell anerkanntes Symbol des Frühlings, der Wiedergeburt und Entwicklung, repräsentiert die Hoffnung, die die Menschheit in die junge Generation und ihr neues Bewusstsein setzt.

Hier sieht man, wie sich Lo Giudice in eine künstlerische Tradition einfügt und sie gleichzeitig erneuert. Er bezieht sich auf Botticelli, den großen Meister der italienischen Renaissance, verwandelt jedoch dessen Bildsprache in eine zeitgenössische Installation, die über unsere Zeit und ihre Gewalttaten spricht. Es ist diese Fähigkeit, Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Natur und Kultur zu schlagen, die den Reichtum seines Werkes ausmacht.

Die Arbeit von Lo Giudice kann auch durch die Linse der Psychoanalyse betrachtet werden, insbesondere durch die Theorien von Melanie Klein über Aggression und Reparatur [3]. Klein zeigte, wie destruktive Impulse durch reparative Impulse im psychischen Entwicklungsprozess ausgeglichen werden. Man könnte im künstlerischen Prozess von Lo Giudice, dieser Art, die Oberfläche zu zerstören, um sie besser wieder aufzubauen, die Materie anzugreifen, um sie besser zu sublimieren, eine Manifestation dieser Dialektik zwischen Zerstörung und Reparatur sehen.

Die zerrissenen Totems, die dann mit lebendigen Farben überzogen werden, veranschaulichen diese Dynamik perfekt. Die anfängliche Gewalt (der Riss, die Verbrennung) wird in einen schöpferischen Akt verwandelt (das Auftragen der Pigmente). Ebenso kann in seinen Gemälden das Abtragen der oberen Schichten, um das darunter Versteckte zu offenbaren, als eine Form kontrollierter Aggression, gefolgt von einer Enthüllung, einer Reparatur gesehen werden.

Diese psychoanalytische Lesart hilft uns, die emotionale Kraft der Werke von Lo Giudice zu verstehen. Sie berühren uns, weil sie grundlegende psychische Prozesse inszenieren, Spannungen, die wir alle erleben: zwischen Zerstörung und Schöpfung, zwischen Gewalt und Schönheit, zwischen Chaos und Ordnung.

Klein spricht auch von der depressiven Position, dem Moment, in dem das Kind erkennt, dass das Objekt, das es in seinen Fantasien angreift, auch das ist, das es liebt. Diese Erkenntnis erzeugt Schuld und Angst, aber auch den Wunsch nach Reparatur. Sehen wir das nicht in den ökologischen Werken von Lo Giudice? Das Bewusstsein, dass die Erde, die wir zerstören, auch die ist, die uns nährt, und dieser Wunsch zu reparieren, zu bewahren?

Das führt uns immer zurück zu seiner Serie “Eden”, diesen imaginären Paradiesen, die nach seinen eigenen Worten eine Antwort auf die Gewalt unserer Zeit sind: “Ich male Edens, weil wir heute mitten in so vielen Kriegen und Zerstörungen leben, und wir alle sind so sehr vom Leben verletzt, aber wir reagieren nicht mit dem Mut, den wir haben sollten. Die heutige Gesellschaft ist das Ergebnis eines hemmungslosen Hedonismus, mit wenigen Idealen und moralischen Werten. Ich male Edens, weil ich durch die Malerei Frieden, Glück und Schönheit bringen möchte” [4].

Diese Aussage könnte naiv erscheinen, wenn sie nicht von Werken von solch großer Intensität getragen würde. Lo Giudice bietet uns kein einfaches Paradies, kein billiges Eden. Seine Paradiese sind komplexe, ambivalente Räume, in denen Schönheit aus gewalttätigen Prozessen hervorgeht, wo Licht aus der Dunkelheit geboren wird. Es ist eine paradiesische Vision, die die Realität von Bösem und Zerstörung nicht ignoriert, sondern eine Transformation, eine Wandlung vorschlägt.

Was den Wert der Arbeit von Marcello Lo Giudice ausmacht, ist diese Fähigkeit, Werke zu schaffen, die sowohl in den elementarsten natürlichen Prozessen verwurzelt sind als auch offen für die zeitgenössischsten Fragestellungen. Seine Malerei spricht von Materie, Erde, Farbe, aber auch von unserem Verhältnis zur Umwelt, von unserer Fähigkeit zu zerstören und zu erschaffen, von unserem Bedürfnis, in einer chaotischen Welt Sinn zu finden.

Und vielleicht liegt genau darin der wahre Erfolg von Lo Giudice: uns daran zu erinnern, dass Kunst, selbst die abstrakteste, niemals völlig vom realen Leben losgelöst ist. Seine Gemälde sind keine Fenster in ein unerreichbares Anderswo, sondern Spiegel, in denen wir unsere eigene Beziehung zur Materie, zur Natur, zum Leben betrachten können.

Also beim nächsten Mal, wenn man vor einem seiner monumentalen Gemälde steht, sollte man sich die Zeit nehmen, wirklich hinzuschauen. Sich von diesen abstrakten Landschaften, diesen imaginären Geologien absorbieren lassen. Und vielleicht entdeckt man dabei nicht nur eine bloße Demonstration technischer Virtuosität, sondern eine tiefgründige Meditation über unseren Platz in der Welt und unsere Verantwortung ihr gegenüber.

Denn darum geht es am Ende: nicht nur um Schönheit, sondern um Bewusstsein. Ein Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit und die Kraft unserer Umwelt, ein Bewusstsein für unsere Fähigkeit zu zerstören und zu schaffen, ein Bewusstsein für unsere Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen. Und ist das nicht letztlich das, was Kunst uns vermitteln sollte?


  1. Marcello Lo Giudice, Interview mit Broadway World News Desk, Mai 2015, anlässlich der Ausstellung “EDEN: Pianeti Lontani” in der UNIX Gallery in New York.
  2. Claude Lévi-Strauss, “La Pensée Sauvage”, Éditions Plon, Paris, 1962.
  3. Melanie Klein, “Love, Guilt and Reparation and Other Works 1921-1945”, The Free Press, New York, 1975.
  4. Marcello Lo Giudice, Interview mit Giulia Russo für Juliet Art Magazine, Juni 2017, anlässlich der Ausstellung “Eden: Distant Planets” im MAXXI Museum in Rom.
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Referenz(en)

Marcello LO GIUDICE (1957)
Vorname: Marcello
Nachname: LO GIUDICE
Geschlecht: Männlich
Staatsangehörigkeit(en):

  • Italien

Alter: 68 Jahre alt (2025)

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