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Jiří Georg Dokoupil: Der Dandy mit 100 Techniken

Veröffentlicht am: 7 Mai 2025

Von: Hervé Lancelin

Kategorie: Kunstkritik

Lesezeit: 10 Minuten

Jiří Georg Dokoupil verwandelt unwahrscheinliche Materialien in eindrucksvolle Kunstwerke: Kerruß, Seifenblasen, Reifenspuren oder Muttermilch werden zu seinen bevorzugten Werkzeugen. Als unermüdlicher Erfinder schafft er Bilder, die zwischen strenger Kontrolle und Hingabe an den Zufall schwanken und so ständig die Grenzen der zeitgenössischen Malerei erweitern.

Hört mir gut zu, ihr Snobs. Glaubt ihr, ihr kennt zeitgenössische Kunst, nur weil ihr drei Ausstellungskataloge gelesen und die letzte Biennale in Venedig besucht habt? Lasst mich euch Jiří Georg Dokoupil vorstellen, diesen schwer fassbaren Künstler, der seit mehreren Jahrzehnten Kritiker verhöhnt, Sammler verwirrt und mit überschäumender Frechheit jede Kategorisierung herausfordert.

1954 in kommunistischen Tschechoslowakei geboren, ist Dokoupil ein Kind des Exils. Nach der sowjetischen Invasion von 1968 floh seine Familie nach Westdeutschland. Diese erzwungene Entwurzelung hat ihm vielleicht die außergewöhnliche Fähigkeit verliehen, sich niemals auf einen einzigen Stil festzulegen. Seit seinen Anfängen mit der Gruppe Mülheimer Freiheit um die 1980er Jahre kultiviert Dokoupil einen radikal nomadischen Ansatz der Schöpfung. Er hat über sechzig Serien entwickelt, mehr als hundert malerische Techniken erfunden und lebt heute zwischen Berlin, Madrid, Rio de Janeiro, Prag, Plowdiw und Las Palmas. Ein künstlerischer Vagabund, der beharrlich die stilistische Etikette ablehnt, die der Kunstmarkt mit so viel Nachdruck verlangt.

Der künstlerische Werdegang von Dokoupil ähnelt seltsam der Geschichte der Hauptfigur in “Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins” von Milan Kundera. Wie Tomas scheint er von diesem existenziellen Dilemma gequält: Hat das Leben nur dann Wert, wenn es durch eine Vielzahl von Erfahrungen geprägt ist, oder durch die Treue zu einem einzigen Weg? Dokoupils Antwort ist klar: Besser ständige Erkundung als das Einsperren in eine erkennbare Signatur. “Ich suche nach der Kraft, ständig Neues zu tun, neue Perspektiven zu entdecken”, gesteht er. “Ich interessiere mich dafür, mit Brüchen und Widersprüchen zu arbeiten. Wir wollen keinen neuen Stil oder eine neue Richtung” [1].

Dokoupil praktiziert das, was der Philosoph Gilles Deleuze als eine permanente “Fluchtlinie” bezeichnen würde, eine beharrliche Weigerung, sich territorial festlegen zu lassen. Seine Praxis ähnelt einem konzeptuellen Nomadismus, der die Erwartungen des Marktes und die Klassifikationen der Kunstgeschichte überlistet. Nehmen wir seine berühmten “Soap Bubble Paintings” (Seifenblasen-Gemälde), eine Serie, die er seit 1992 entwickelt. Dokoupil mischt Pigmente mit seifigem Wasser, bläst Blasen, die er auf der Leinwand platzen lässt und so organische Formen mit leuchtenden Farben erschafft. Das Ergebnis ist atemberaubend: mikroskopische Galaxien, zelluläre Universen, die zu pulsieren scheinen. Diese Werke versetzen uns zugleich ins unendlich Kleine und ins unendlich Große, als hätte Dokoupil den Urknall in einer Seifenblase eingefangen.

“Ich mische Seife mit Pigment und puste dann Blasen, die ich anschließend auf der Leinwand zum Platzen bringe”, erklärt er mit verblüffender Einfachheit. “Man könnte sagen, die Chemie erzeugt Bilder” [2]. Dieser Ansatz erinnert an die Experimente des experimentellen Filmemachers Stan Brakhage, der Schmetterlingsflügel und getrocknete Blätter direkt auf den Film klebte, um psychedelische visuelle Explosionen zu schaffen. Wie Brakhage erforscht Dokoupil die Grenzen seines Mediums, indem er natürliche und zufällige Prozesse in seine Praxis integriert.

In den letzten Jahren begann Dokoupil, perlmuttartige Autolacke in seine Blasen-Kompositionen einzubeziehen. Die dadurch entstehenden Oberflächen verändern ihr Aussehen je nach Winkel und Licht und verwandeln das Werk kontinuierlich. Diese kinetische Dimension verwandelt den Betrachter in einen aktiven Teilnehmer. Das Werk existiert nur in dieser dynamischen Beziehung zwischen der sich verändernden Oberfläche und dem beweglichen Blick des Besuchers in seiner vollen Existenz.

Dieser Ansatz erinnert an einige Theorien des Experimentalfilms, bei denen die direkte Wahrnehmung über die Erzählung hinausgeht. Wie Gene Youngblood in “Expanded Cinema” (1970) schrieb, “Kunst ist nicht etwas, das Sie genießen, sondern ein Sein, das Sie erfahren.” Dokoupils Blasenbilder verkörpern dieses Konzept perfekt: Sie stellen nichts dar, sie sind reine visuelle Ereignisse.

Es wäre jedoch ein monumentaler Fehler, Dokoupil nur auf seine Blasenbilder zu reduzieren. Der Künstler hat unzählige Techniken erfunden, jede überraschender als die vorherige. Seine “Soot Paintings” (Rußgemälde) entstehen, indem er eine Kerze unter einer an der Decke aufgehängten Leinwand hält, wobei die Flamme die Oberfläche entsprechend einem projizierten Bild schwärzt. Ironischerweise verwandelt Dokoupil so einen Zerstörungsprozess (die Verbrennung) in einen schöpferischen Akt.

In seinen “Tire Paintings” (Reifengemälde) lässt er Reifen, die mit Farbe bedeckt sind, über die Leinwände rollen und erzeugt Spuren, die mal an Autobahnen aus der Vogelperspektive, mal an automatische Schriften erinnern. Mit seinen “Whip Paintings” (Peitschenbildern) spritzt er Farbe mit einer Cowboy-Peitsche auf die Leinwand und verbindet so die Gestik des abstrakten Expressionismus mit einer fast sadomasochistischen Performance-Dimension.

Seine Serie “Mother’s Milk Paintings” (Gemälde mit Muttermilch) treibt das Experiment noch weiter: Dokoupil malt mit Muttermilch auf Leinwand und brät die Oberfläche dann, bis die Milch karamellisiert. Das Ergebnis erinnert an alte Landkarten, Pergamente, die vom Alter vergilbt sind. Diese malerische Alchemie verwandelt eine nährende Substanz in ein Kunstwerk und spielt mit den symbolischen Konnotationen von Muttermilch, während sie gleichzeitig deren chemische Eigenschaften erforscht.

Im Jahr 2024, für seine Ausstellung “Venetian Bubbles” in der Biblioteca Nazionale Marciana in Venedig, überschritt Dokoupil eine neue Grenze, indem er seine ersten Glaskulpturen schuf, dreidimensionale Erweiterungen seiner Blasenbilder. Sieben metallische Flaschenhalterstrukturen sind mit Kristallblasen in verschiedenen Farbtönen geschmückt, die den flüchtigen Moment einfangen, in dem eine Blase ihre Fülle erreicht, bevor sie platzt. “Damit stellt Dokoupil das Unmögliche in Frage: die Schönheit einer Seifenblase auf ihrem Höhepunkt festzuhalten, eingefroren in der Zeit”, so ein Kritiker [3].

Diese Obsession für die Verwandlung von Materie erinnert nicht von ungefähr an die Forschungen mittelalterlicher Alchimisten. Wie sie versucht Dokoupil, gewöhnliche Substanzen in visuelles Gold zu verwandeln. Doch im Gegensatz zu den Alchimisten, die ein einziges Ziel verfolgten (den Stein der Weisen), erkundet Dokoupil vielfältige Wege und weigert sich, sich auf eine einzige Suche festzulegen. Seine Praxis entspricht der eines ketzerischen Alchimisten, der nicht an die endgültige Lösung glaubt, sondern an die unendliche Vermehrung von Experimenten.

Diese alchemistische Dimension seiner Arbeit führt uns zurück zum Konzept des “Bricolage”, das der Anthropologe Claude Lévi-Strauss entwickelt hat. Der Bricoleur ist nach Lévi-Strauss jemand, der “mit den Mitteln von der Stange” arbeitet, also heterogene Werkzeuge und Materialien nutzt, um praktische Probleme zu lösen. Im Gegensatz zum Ingenieur, der kohärente Systeme entwirft, improvisiert und passt der Bricoleur an. Dokoupil ist genau dieser Typ Künstler: ein genialer Bastler, der alltägliche Materialien umfunktioniert, um verblüffende Bilder zu schaffen.

Dieser Ansatz zeigt sich besonders deutlich in seiner Serie “Arrugadist Paintings”, inspiriert von den runzeligen Kartoffeln (papas arrugadas) der Kanarischen Inseln. Dokoupil trägt Farbe auf eine Oberfläche auf, die er absichtlich beim Trocknen reißen lässt und so Texturen erzeugt, die an welke Haut erinnern. Dieses Verfahren verwandelt einen technischen Mangel (das Reißen) in ein ästhetisches Prinzip und kehrt traditionelle Wertvorstellungen der Malerei um.

Der Kunstkritiker Rainer Crone hat diese Dimension von Dokoupils Arbeit treffend hervorgehoben: “Ich schlage vor, dass das letzte dieser genannten Gemälde sowie das direktere, eher eindringliche und eindrückliche Werk mit dem Titel ‘Die unheilbare Metamorphose des russischen Volkes’ die direkten Ergebnisse der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981 sind” [4]. Diese Beobachtung offenbart die politische Dimension von Dokoupils Werk, die normalerweise von seinen formalen Experimenten verdeckt wird.

Aber diese politische Lesart erschöpft nicht die Bedeutung des Werkes. Dokoupil selbst hält eine ambivalente Beziehung zur Interpretation seiner Arbeit. “Ich zitiere oft die Kunstgeschichte als Antwort auf ein momentanes Bedürfnis. Ich benutze sie, als wäre sie eine gefundene konventionelle Sprache. In dieser Hinsicht sind meine Interessen sehr volatil. Ich schlüpfe in eine andere Rolle und genau das bin ich dann”, erklärt er [5]. Diese identitäre Fluidität erinnert an das Konzept der “Maskerade”, das die feministische Theoretikerin Joan Riviere entwickelte, der zufolge Identität nie mehr ist als eine Aufführung, eine Rolle, die man vorübergehend annimmt.

Dokoupils Einstellung zur Kunstgeschichte ist zugleich ehrfürchtig und respektlos. Er kennt die Codes und Referenzen sehr genau, manipuliert sie jedoch mit frecher Freiheit. So etwa, als er auf der Documenta 7 in Kassel 1982 ein Werk mit dem Titel “God, show me your balls” präsentierte, eine ironische Hommage an die Bilder von Julian Schnabel, die aus zerbrochenen Tellern bestehen. Da Schnabel zu dieser Documenta-Ausgabe nicht eingeladen war, kopierte Dokoupil absichtlich dessen Stil, um ihm trotz seiner Abwesenheit eine “Präsenz” zu verschaffen.

Diese Anekdote enthüllt die zutiefst subversive Dimension von Dokoupils Arbeit. Er begnügt sich nicht damit, ästhetische Konventionen herauszufordern, sondern stellt den Begriff des Autors und der Originalität selbst in Frage. In einem künstlerischen Kontext, der von Signatur und wiedererkennbarem Stil besessen ist, schlägt Dokoupil eine Praxis vor, die auf ständiger Metamorphose basiert. “Nichts ist langweiliger, als ständig Napoleon zu spielen”, erklärt er [6]. Dieser Satz fasst seine Philosophie perfekt zusammen: Es ist besser, viele künstlerische Identitäten zu erforschen, als sich auf eine einzige Rolle festzulegen.

Dieser chamäleonartige Ansatz stellt für Kunsthändler und Sammler nicht ohne Probleme dar. Der Künstler erzählt, wie Mary Boone sich, nachdem sie ihn begeistert ausgestellt hatte, von ihm abwandte, als er seinen Stil radikal änderte. Selbst Leo Castelli, der für seine Aufgeschlossenheit legendär ist, wurde schließlich müde von seinen unaufhörlichen Metamorphosen. Nur Bruno Bischofberger, der langjährige Händler von Andy Warhol, blieb Dokoupil über Jahrzehnte treu und verstand die paradoxe Kohärenz seiner Inkohärenz.

Aber diese stilistische Freiheit hat einen Preis. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen wie Julian Schnabel oder Anselm Kiefer wurde Dokoupil nie vollumfänglich im Pantheon der zeitgenössischen Kunst aufgenommen. Sein Widerstand gegen Kategorisierungen machte es schwer, ihn als konsistente Marke “zu verkaufen”. Wie der Kritiker Morgan Falconer bemerkte: “Eine der Hauptanklagen gegen ihn war immer, dass es ihm an Substanz und Ernsthaftigkeit mangele” [7].

Diese Anklage ist zutiefst ungerecht. Die scheinbare Leichtigkeit von Dokoupil verbirgt eine tiefe Reflexion über die Produktionsbedingungen von Kunst in der postmodernen Ära. Seine vielgestaltige Praxis hinterfragt die Begriffe von Authentizität, Originalität und künstlerischer Autorität, die vom Markt als selbstverständlich angesehen werden. In diesem Sinne ist er weniger ein frivoler Künstler als ein visueller Denker, der verstanden hat, dass die beste Art, das System zu kritisieren, darin besteht, es ständig zu überlisten.

Seine Haltung erinnert an die Dandys des 19. Jahrhunderts, jene Figuren, die ihr Leben selbst zu einem Kunstwerk machten. Wie Charles Baudelaire schrieb: “Der Dandysmus ist nicht einmal, wie viele unüberlegte Leute zu glauben scheinen, eine übermäßige Liebe zur Toilette und materiellen Eleganz. Diese Dinge sind für den vollkommenen Dandy nur ein Symbol der aristokratischen Überlegenheit seines Geistes.”

Dokoupil hat diese Haltung in das Feld der zeitgenössischen Kunst übertragen. Seine vielen Residenzen, seine ungewöhnlichen Techniken, seine widersprüchlichen Stile sind Manifestationen einer aristokratischen Freiheit des Geistes, die sich den Zwängen des Marktes und den Kategorisierungen der Kunstgeschichte verweigert.

Der bedeutendste Beitrag von Jiří Georg Dokoupil zur zeitgenössischen Kunst liegt möglicherweise weniger in seinen technischen Innovationen, so beeindruckend sie auch sind, als in seiner Fähigkeit, eine schöpferische Freiheit in einem zunehmend normierten System aufrechtzuerhalten. In einer Zeit, in der Künstler ermutigt werden, eine erkennbare “Marke” zu entwickeln, erinnert uns Dokoupil daran, dass wahre Kunst oft aus Bruch und Widerspruch entsteht.

Um die Worte des Künstlers selbst zu zitieren: “Ich sehe die Kunstgeschichte völlig verzerrt. Ich kann nicht anders, aber für mich ist es eine materialistische Geschichte vieler rationaler Erfindungen” [8]. Diese “verzerrte” Sicht ist genau das, was Dokoupil einzigartig macht. Er betrachtet die Kunstgeschichte nicht ehrfurchtsvoll, sondern behandelt sie wie ein formbares Material, aus dem er frei schöpft, um seine Experimente zu nähren.

Also, das nächste Mal, wenn Sie eines seiner Werke in einem Museum oder einer Galerie sehen, versuchen Sie nicht, es einer bestimmten Strömung oder einem Stil zuzuordnen. Akzeptieren Sie vielmehr, verwirrt, überrascht oder vielleicht sogar irritiert zu sein. Denn genau in dieser Zone des Unbehagens agiert Dokoupil und erinnert uns daran, dass Kunst, die diesen Namen verdient, uns immer destabilisieren und niemals in unseren Gewissheiten bestärken sollte.

Wie Seifenblasen, die er auf seinen Leinwänden zum Platzen bringt, ist das Werk von Dokoupil zugleich vergänglich und beständig, verspielt und tiefgründig, einfach und komplex. Es fängt das Wesen unserer Zeit ein: instabil, wechselhaft, weigert sich, fest definiert zu werden. Ein Werk, das wie sein Schöpfer die ständige Verwandlung der beruhigenden Stagnation des Stils vorzieht.


  1. Dokoupil in “Deutsche Kunst, hier heute” (Interview mit Wolfgang Max Faust), in Kunstforum, Dezember 1981 / Januar 1982.
  2. Jiří Georg Dokoupil in einem Interview für Frame Web, 2015.
  3. “Das Vergängliche in Blasen eingefangen”, Market Art Fair, April 2025.
  4. Rainer Crone, “Jiri Georg Dokoupil: Das gefangene Gehirn”, Artforum, März 1983, Bd. 21, Nr. 7.
  5. Dokoupil in “Deutsche Kunst, hier heute” (Interview mit Wolfgang Max Faust), in Kunstforum, Dezember 1981 / Januar 1982.
  6. Interview mit Jiří Georg Dokoupil von Cornelius Tittel, 032c Magazine, August 2012.
  7. Morgan Falconer, “Jiri Georg Dokoupil”, Frieze, 11. November 2002.
  8. Interview mit Jiří Georg Dokoupil von Cornelius Tittel, 032c Magazine, August 2012.
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Referenz(en)

Jiri Georg DOKOUPIL (1954)
Vorname: Jiri Georg
Nachname: DOKOUPIL
Weitere Name(n):

  • Jiří Georg Dokoupil

Geschlecht: Männlich
Staatsangehörigkeit(en):

  • Tschechien
  • Deutschland

Alter: 71 Jahre alt (2025)

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